Wer die politischen Auswüchse in den USA noch durchdringen will, braucht inzwischen die Fähigkeiten sowjetischer „Kreml-Astrologen“. Wie im stalinistischen Moskau regiert magisches und kultisches Denken. Der Tod Stalins auf dem Gipfel der Verblendung ließ 1953 den gesamten Knoten platzen – wiederholt sich Geschichte?

Filmtrailer zu „The Death of Stalin“ (2017)

In Armando Iannuccis rabenschwarzer Filmkomödie „The Death of Stalin“ (2017) findet die Staats- und Parteiführung den sowjetischen Diktator im März 1953 bewusstlos auf dem Boden liegend vor: Der allmächtige Übervater Stalin hat einen Schlaganfall erlitten.
„Welchen Doktor habt ihr gerufen?“ fragt Nikita Chruschtschow, Sekretär des Zentralkomitees, in die entgeisterte Runde.
„Diese Frage ist derzeit Gegenstand der Diskussion“, antwortet der skrupellose Geheimdienstchef Lavrenti Beria.
„Als amtierender Generalsekretär denke ich, das sollte das Komitee entscheiden“, gibt Georgi Malenkow zu Protokoll.
„Das Komitee?“, wiederholt Chruschtschow entgeistert, während Stalins Lippen sich tonlos bewegen. „Aber unser realer Generalsekretär liegt da in einer Pisslache! Ich glaube, er sagt ‚Holt sofort einen Arzt!'“
Malenkow aber bleibt dabei: „Nein, ich … ich bin dagegen! Ich denke, wir sollten warten, bis wir abstimmungsfähig sind!“

Kurz darauf ist Stalin tot. Was im Film wie eine groteske Slapstick-Szene erscheint, ist eher eine abgeschwächte Version der Wirklichkeit. Tatsächlich wurde ein Treffen einberufen, um über das Hinzuziehen medizinischen Sachverstands abzustimmen. Denn Stalins ehemaliger Leibarzt Wladimier Winogradow stand nicht zur Verfügung – der Diktator hatte ihn schon Monate zuvor als „jüdischen Verschwörer“ ins Gefängnis werfen und foltern lassen. Die Angst der Funktionäre im inneren Zirkel des obersten Machthabers, selbst von einem bewegungsunfähigen Stalin noch des Kapitaldelikts einer „Strömungsbildung“ gegen seinen politischen Willen bezichtigt zu werden, ließ sie wie kopflose Kinder agieren. Doch kurz nach dem kathartischen Ereignis des Diktatorentodes, mit Beginn der „Entstalinisierung“, wurde Winogradow wie unzählige andere aus dem Kerker entlassen und rehabilitiert. Der Spuk des magischen statt politischen Denkens hatte ein abruptes Ende gefunden.

Manchmal lehrt eine Komödie mehr über die hahnebüchenen Verrenkungen einer politischen Elite, die nur noch auf die Sicherung der Macht fixiert ist, als manches Standardwerk der Fachliteratur. Doch wenige hätten jemals geglaubt, ganz ähnliche Zerrbilder von Duckmäusertum, Verheimlichung, Desinformation und Prinzipienlosigkeit in der reichsten Demokratie der Welt vorzufinden. In diesen Tagen und Stunden geschieht genau das in Washington und Rehoboth Beach, Delaware, einem Privatsitz des formal noch amtierenden US-Präsidenten Joe Biden. So groß ist die Dynamik des zunehmend unberechenbaren Geschehens, dass auch dieser Artikel schon bei Erscheinen wieder von neuen, noch absurderen Volten der Realität überholt worden sein könnte. Während ich dies schreibe, geht der Blick immer wieder mal zu den Push-Nachrichten auf dem Smartphone.

Versuchen wir eine kurze Chronik der sich überstürzenden Ereignisse seit dem 28. Juni, dem heute erst gut drei Wochen zurückliegenden Tag der TV-Debatte zwischen den Präsidentschaftskandidaten Trump und Biden: Das Kartenhaus einer fiktiv zusammengeschusterten Regierungs-Idylle aus Sicht der Demokratischen Partei der USA begann in jenen Stunden zusammenzubrechen. Auch der letzte Verblendete konnte nun nicht mehr leugnen, dass Biden von einer rapide voranschreitenden Demenz zerfressen wurde – eine Tatsache, die seinen Kritikern schon im Wahlkampf vier Jahre zuvor aufgefallen, aber sofort und bis zu dieser Debatte als bösartiger Rufmord diffamiert worden war.

Weder Spitzenpolitiker beider US-Lager noch die Menschen in Bidens Umfeld, noch ausländische Diplomaten, noch die Medien mit Zugang zum Weißen Haus hatten jemals öffentlich Fragen zu dieser eklatanten Gefährdung des höchsten Amtes der USA gestellt oder zugelassen. Alle hatten den Mantel des Verschweigens über den geistigen Zustand eines Mannes gebreitet, der als Oberbefehlshaber die nuklearen Codes der USA aktivieren kann. Niemand von ihnen wollte sich offenbar mit dem Machtapparat eines egomanen und – wie der Umgang mit seinem Intimfeind Trump gezeigt hatte – rachsüchtigen Sonnenkönigs anlegen.

Alle hatten den Mantel des Verschweigens über den geistigen Zustand eines Mannes gebreitet, der die nuklearen Codes der USA aktivieren kann.

Doch während nun mühsam so etwas wie eine Debatte über Bidens mentale Kapazitäten einsetzte und erste Risse in der Front derer auftauchten, die den kranken Greis ein weiteres Mal ins Amt hieven wollten, kam bereits der 13. Juli. An jenem Tag überlebte der ehemalige Präsident Donald Trump um Haaresbereite ein politisches Attentat, das erste auf einen (ehemaligen) Präsidenten seit 1981, als John Hinckley jr. auf Ronald Reagan gefeuert hatte.

Schon Stunden später türmten sich die unbeantworteten Fragen und Widersprüchlichkeiten auf: Warum hatte der Schütze schon eine Stunde zuvor mit Zielsucher, Rucksack und Leiter (!) auf dem minutiös gesicherten Veranstaltungsgelände herumfuhrwerken und schließlich in aller Ruhe das Dach einer Halle in nur 130 Metern Entfernung erklimmen können, wo er dann immer noch alle Zeit der Welt hatte, ein Gewehr auszupacken, auf Trump anzulegen und auch noch drei Schüsse abzugeben? Warum hatte der Secret Service nicht proaktiv auf zahlreiche Hinweise aus der Menge reagiert? Warum war auf dem fraglichen Dach keines seiner Scharfschützenteams postiert gewesen?

Auch von diesen naheliegenden Fragen wurde kaum eine zuerst durch die sogenannten Qualitätsmedien aufgeworfen. Das taten fast durchweg Journalisten und Autoren alternativer Nachrichtenkanäle und Blogs, die dafür reflexhaft ein weiteres Mal als Verschwörungstheoretiker und Aluhüte diffamiert wurden. Unterdessen versuchten die großen Sender und Zeitungen in den USA wie auch in Deutschland bald zur Tagesordnung überzugehen – es war ja nur ein Ex-Präsident beinah erschossen worden, den zuvor auch diese Medien systematisch zum „neuen Hitler“ und „faschistischen“ Monster verzerrt hatten.

In den folgenden Tagen aber erhielt die Skepsis, ob nicht hinter dem Anschlag mehr als ein verwirrter jugendlicher Einzeltäter stecken müsse, immer neue Nahrung: Warum konnte das FBI das nach der Tat konfiszierte Telefon des Attentäters Crooks angeblich bis heute nicht auswerten? Und behauptete Secret-Service-Chefin Kimberly Cheatle da wirklich allen Ernstes, das Dach des Mordschützen sei nicht von ihren Leuten besetzt gewesen, weil es „eine Neigung“ (von weniger als zehn Grad) habe und von daher „eine gewisse Gefahr“ für die Arbeitssicherheit ihrer Agenten bestand? Auf den anderen, besetzen Dächern war die gefährliche Neigung sogar deutlich ausgeprägter.

Noch frappierender als die Qualität solcher Auskünfte in einem für die Sicherheit der USA und ihres politischen Personals eminent wichtigen Fall war das dröhnende Schweigen zu fast allen anderen Fragen des Attentats. Keine Pressekonferenzen, keine Updates, keine Hintergrund-Erkenntnisse von offizieller Seite. Und das in einem Zeitalter, in dem Internet, Smartphones und Social Media allgegenwärtig sind. So etwas lässt Spekulationen und Theorien Hunderttausender miteinander vernetzter Menschen naturgemäß ins Kraut schießen. Und eine spektakuläre Gelegenheit dazu bot sich ihnen erneut wenige Tage später.

Am vergangenen Freitag, 19. Juli, kam es aus heiterem Himmel zum „größten IT-Versagen aller Zeiten“ (Elon Musk): Flughäfen, Banken, Börsen und Krankenhäuser weltweit wurden durch einen Software-Bug lahmgelegt, stundenlang regierte das Chaos. Was dabei an Daten unrettbar verloren ging, ist völlig offen. Urheber des Desasters: die US-Firma Crowdstrike, spezialisiert ausgerechnet auf „Cybersicherheit“. Einer ihrer größten institutionellen Anteilseigner ist die mächtige US-Investmentgesellschaft Black Rock. Kurioserweise taucht dieser Name auf den jüngsten Seiten der zunehmend irren Trump-Biden-Saga gleich zweimal auf: Der erst 20-jährige Trump-Attentäter Thomas Crooks, ansonsten ein völlig unbeschriebenes Blatt, war vor zwei Jahren schon einmal in einem Black-Rock-Werbefilm aufgetreten. Und ein Investmentfonds, an dem Black Rock Anteile hält, hatte an der Börse kurz vor dem Attentat auf einen Kursverfall der Trump Media & Technology Group gewettet. All das war zwar kein Beleg für nichts, aber angesichts täglich neuer Donnerschläge und einer abenteuerlichen (Des-)Informationspolitik durch zuständige Stellen zog das Internet begierig wildeste Verbindungslinien.

Keine weiteren grotesken Vorkommnisse für 48 Stunden – bis Sonntag, 21. Juli. Nur acht Tage nach dem Trump-Attentat galt es ein neues präsidentielles Opfer zu vermelden: Joe Biden. Der 81-Jährige habe sich aus dem Rennen um die Präsidentschaft zurückgezogen, teilte jemand namens „Joe Biden“ für viele völlig überraschend mit. Nicht vor den Kameras des Fernsehens, wie es das Protokoll erfordert hätte, sondern per Tweet. Drei Tage zuvor war verlautbart worden, Biden sei an Covid erkrankt. Dem Ausstiegs-Tweet nun war ein Brief beigefügt, an dem Kennern der präsidialen Korrespondenz wie dem früheren Mega-Donor der Demokratischen Partei, Bill Ackman, zwei Dinge auffielen: Er trug nicht den offiziellen Briefkopf mit dem Siegel des Präsidenten. Und die Signatur wich deutlich von jenen ab, mit denen Biden üblicherweise Dokumente unterzeichnet hatte. Ach ja: Und „Joe Biden“ erwähnte mit keinem Wort, dass er fortan Vizepräsidentin Kamala Harris im Rennen um den Spitzenjob unterstütze. Das tat erst ein weiterer Tweet, der einige Minuten später folgte.

Bis heute gab es keine weiteren im Bild dokumentierten Auftritte Bidens. Sein Terminkalender für diese Woche, der unter anderem ein Treffen mit Israels Benjamin Netanjahu vorgesehen hatte, ist leergefegt. Wer war der Verfasser des Rückzugs-Schreibens? Ist es bis zu Joe Biden durchgedrungen, dass er sich zurückgezogen hat? Wer regiert eigentlich gerade die USA, da die Macht nicht auf die Vizechefin übergegangen ist? Lebt der Präsident überhaupt noch, nachdem sein jüngerer Bruder Frank kryptisch von „wie viel gemeinsamer Zeit auch immer uns noch bleibt“ raunte? Dies sind die Fragen der Stunde, die sich ernsthafte politische Beobachter in Washington derzeit tatsächlich stellen müssen – ohne belastbare Antworten zu bekommen. Es sind Fragen, die ins Moskau von 1953 passen. Dort nannten sich solche Beobachter selbstironisch „Kreml-Astrologen“.

Wie es zu diesen Zuständen kommen konnte, die einer transparenten Demokratie unbekannt und unwürdig sind? Es muss an dem zunehmend dichten und undurchdringlichen Geflecht des positiven wie negativen Personenkults liegen, das wie eine Schlingpflanze die politische Kultur rund um die Demokratische Partei zu erwürgen droht – ein Gestrüpp aus Biden-Verherrlichung und Trump-Verteufelung, das mangels Erdung in der Realität früher oder später immer bizarrere Luftwurzeln ausprägen musste, um sich weiter ausbreiten zu können. Begonnen hat der Wildwuchs noch zu Zeiten Obamas, dessen antirassistische und progressive Scheinwelt von der Wahl Trumps rüde erschüttert worden war. Dabei war doch Hillary Clinton als Nachfolgerin ausgemacht, die vermeintlich erste Frau an der Spitze der USA.

Das Gestrüpp aus Biden-Verherrlichung und Trump-Verteufelung musste mangels Erdung in der Realität früher oder später immer bizarrere Luftwurzeln ausprägen, um sich weiter ausbreiten zu können.

Beide, der Clinton- und der Obama-Clan, haben dem Systemsprenger Trump diese Störung nie verziehen. Denn auch die ungewählten Hintersassen der Macht, der militärisch-industrielle Komplex, Big Pharma, der Deep State und seine zahlreichen Geheimdienste mit Drei-Buchstaben-Kürzeln betrachten Trump als Gefahr für Pfründe, lukrative Kriege und Pandemiepläne in aller Welt. „Ich kann mit einem Telefonanruf einen Krieg beenden“ – solche Trump-Zitate lösen bei ihnen Alarm der höchsten Kategorie aus.

Sie haben ihn und seine MAGA-Bewegung daher mit mehr Inbrunst verfolgt als je eine demokratisch gewählte Machtelite seit Menschengedenken ihre Gegner. Sie haben ihn und die Seinen angeklagt, haben mit Schauprozessen, einseitig besetzten Ermittlungskommissionen und allen juristischen Kanonen das Recht zur Kriegswaffe („Lawfare“) gemacht. Sie haben seine Unterstützer körperlichen Attacken durch „Antifa“-Mobs ausgeliefert. Sie haben wohlwollend zugelassen, dass man ihren Leumund zerstörte, ihre Konten kündigte und ihre wirtschaftlichen Existenzen vernichtete.

Kleine Mitläufer wie die zu „militanten Aufständischen“ aufgeblasenen Kapitol-Demonstranten des 6. Januar 2021 sitzen ebenso im Knast wie der prominente MAGA-Stratege Steve Bannon. Und für den überaus erfolgreich dämonisierten Trump war die symbolträchtigste Haftstrafe vorgesehen – wobei die Anklagepunkte gegen ihn inzwischen zum Großteil zusammengebrochen sind. Auch dies: Zustände, die einem Stalin nicht fremd gewesen wären. Doch je mehr das amerikanische Volk – verschreckt von der maßlosen Übergriffigkeit und Machtbesessenheit der Democrats – auf die Seite des angeblichen Monsters Trump zu wechseln droht, desto wilder müssen die Narrative und Plots sein, um noch die Deutungshoheit über das immer irrationalere Geschehen zu behaupten.

Inzwischen – Stand 23. Juli – haben sich wichtige Großspender und Spitzenvertreter der Democrats um die überaus unpopuläre Vizepräsidentin Harris geschart. Damit steht sie praktisch als Kandidatin fest, ohne dass die Delegierten des bevorstehenden Parteitags auch nur ein Wort mitzureden hätten. Weil das Rad sich immer schneller dreht, wird sie dann aber womöglich schon amtierende Notfall-Präsidentin sein. Die kommenden Tage und Wochen dürften zumindest nicht langweilig werden. Update, kurz vor Veröffentlichung dieses atemlosen Reports: Secret-Service-Chefin Kimberly Cheatle steht vor dem Rücktritt, meldet die BBC am Dienstag um 17:49 Uhr.

Wo die politische Vernunft erdrosselt und zum Opfer wird, bleiben Bauernopfer nicht aus. Hinter verschlossenen Türen tagt das Zentralkomitee in Dauersitzung. Ob die Leibärzte in den Folterkellern noch rechtzeitig begnadigt werden, um den Patienten „Demokratie“ irgendwie am Leben zu erhalten? Trump, der Ex-Präsident im Wartestand, hat gegen einen gepflegten Personenkult ebensowenig einzuwenden wie Biden. Fragen Sie also von jetzt an die White-House-Astrologen.