Die weißen Lacklederschuhe mit den spiegelnd polierten schwarzen Spitzen sind aus Ungarn, handgenäht. Die schwarze Krawatte, passend zum nicht dezenten Nadelstreifenanzug, zieren zwei goldene Broschen mit Hufeisenmotiven. Auch der Siegelring an der linken Hand zeigt golden einen Pferdekopf. Den Aufzug hat Emil Weiss (83) nicht für den Fotografen gewählt. Er kleidet sich einfach gern elegant – und standesgemäß.

Denn Weiss ist als Ältester das Oberhaupt einer Sippe von rund 500 Menschen, und alle wohnen in rund 40 nahezu identischen Reihenhäuschen am Georgswerder Ring in Hamburg-Wilhelmsburg. Sie sind sesshaft gewordene Sinti, aber Weiss sagt: Zigeuner. „Warum sollen wir denn nicht Zigeuner sein? Nur weil die Nazis uns so genannt haben?“

Zigeuner also. Der Clan-Chef kann ein kompliziert zu erklärendes, entferntes Verwandtschaftsverhältnis zum berühmten Gipsy-Jazzmusiker Django Reinhardt vorweisen. Die Familie Weiss trägt entsprechend viel zur Wilhelmsburger Musikkultur bei: Das Cafe-Royal-Salonorchester mit fünf Familienmitgliedern und das Elbsinsel-Gipsy-Festival im Wilhelmsburger Bürgerhaus gehören seit Jahren zur festen Kulturszene des Bezirks.

Ein Groschen Wegezoll

Seit rund 170 Jahren leben die Weiss im heutigen Hamburg. „Wahrscheinlich kamen wir aus Ungarn über den Harz in den Stadtteil, der damals das selbstständige Harburg war“, vermutet der Patriarch. Dort kampierte man zunächst noch während der Winterhalbjahre auf einem Wohnwagenplatz, in den Sommern zog man gewohnheitsmäßig mit Pferd und Wagen über Land.

Aus der Zeit stammt wohl, so glaubt Weiss, das hartnäckige Klischee, Zigeuner würden Kinder klauen: „Wenn sich die Luke eines der kleinen, engen Wagen öffnete, purzelten oft gleich sieben oder acht Kinder heraus. Die Deutschen konnten offenbar nicht glauben, dass das alles eigene waren.“ Die Kinder indes genossen wie die Erwachsenen die große Freiheit des fahrenden Lebens, das ständige Unterwegssein. „Mein Großvater hat auf der alten Harburger Brücke noch zehn Pfennig Wegezoll für jede Überfahrt bezahlt“, berichtet Weiss.

Später dann zog die Sippe auf die Elbinseln, wo sie 1962 nur mit Müh und Not der großen Sturmflut entkam – dank einer Strategie des erwähnten Großvaters: „Er hatte uns eingeschärft, wenn mal was ist, dann nehmt immer die Brücke nach Süden, da ist sicheres Land. Nach Norden kommt nur Wasser“, sagt Emil Weiss. Die Wohnwagen erreichten gerade noch das rettende Harburg.

Dort, von der Wohnung eines Bruders aus, hörte der damals 34-Jährige in der Sturmnacht Menschen schreien, die sich auf die Dächer von Gartenhäuschen gerettet hatten: „Da lieh ich mir ein Gummiboot und fuhr mit einem anderen jungen Mann zusammen los“, berichtet er. „Zusammen haben wir bei zwei Fahrten elf Menschen gerettet. Nur zu einer Frau, die von ganz hinten um Hilfe schrie, kamen wir nicht mehr durch. Nach einiger Zeit waren keine Schreie mehr von dort zu hören.“ Sein Heldentum ist nie von offizieller Seite gewürdigt oder gar prämiert worden. Es war dann stattdessen die Ökonomie der „Wiedergutmachung“, die das Leben der Familie Weiss materiell veränderte.

Mit elf Jahren Zwangsarbeiter

Wie alle anderen Zigeuner war die Großfamilie während der Nazizeit verfolgt worden. Emil Weiss selbst musste im Alter von elf Jahren für ein Hamburger Industrieunternehmen Zwangsarbeit leisten, seine heutige Frau Alma verbrachte fünf Jahre in einem Konzentrationslager. Sie lernten sich kennen, als beide auf der Flucht waren – in den Wäldern bei Buxtehude. Die Siedlung am Georgswerder Ring baute ihnen die Stadt Hamburg 1982, eine späte Geste des Verantwortungsbewusstseins. Kurz zuvor hatte es wenige Meter weiter erstmals feste Behausungen gegeben, aber die starren Wände statt des schaukelnden Wagens waren Alma so unheimlich, dass sie die Rückwand des Häuschens herausschlugen und den Wohnwagen von außen dagegenstellten – jede Nacht konnte das Paar so noch im vertrauten Wagen verbringen.

In ihrem dann kurz darauf gebauten neuen Haus, das die Einfahrt zu ringförmig angelegten Siedlung wie ein Wachposten beherrscht, leben Alma und Emil nun mit einem erstaunlichen Sammelsurium von Mobiliar und Accessoires: Da ist das schmale Kastenbett („Wir schlafen darin seit über 50 Jahren, was brauchen wir mehr?“), da ist leuchtend bunter Nippes aus allen Epochen – und ein Kleiderschrank, aus dem Dutzende farbenfroher Krawatten herausquellen. Weiss stöhnt bei dem Anblick auf, denn die Binder sind die Folge von Besuchen seiner 60 Enkel. „Ich besitze jetzt schon 450 Schlipse. Meinen Enkeln habe ich weitere Geschenke dieser Art verboten. Sie sollen mir stattdessen lieber Socken mitbringen.“

Überhaupt: die Kinder. Für sie vor allem hat Weiss sein Haus und insbesondere seinen Vorgarten unnachahmlich herausgeputzt. Was gibt es da nicht alles zu sehen: schimmernde Lüster und Kronleuchter selbst noch unter dem Vordach, bunte Tierfiguren aus Terrakotta oder Gips, einen elektrisch betriebenen Springbrunnen unter dem Dach einer chinesischen Pagode, noch mehr Figürchen, die Nachahmung des Lübecker Holstentors, ein Miniatur-Pferdewohnanhänger, Trödelmarkt-Errungenschaften. Aber vor allem natürlich: die ganzjährig von der Straße aus zu besichtigende, inzwischen legendäre Weihnachtskrippe. Für diesen Anblick kommen Busladungen mit Schülern (willkommen) aus fremden Städten oder Altersheim-Bewohnern, die nicht ganz so willkommen sind. „Wir sind doch kein Zoo, wo man sich angaffen lassen muss“, differenziert Weiss mit seiner eigenen Logik.

Die Weihnachtskrippe, die an den traditionellen christlichen Glauben der Familie Weiss gemahnt, hat etwas Rührendes. Die singenden Gips-Engelchen, die das Christuskind bewachen, haben sogar elektrische Kerzen von ihm erhalten, um die Noten aus den Gesangbüchern besser ablesen zu können. Auch all die vielen Enkel des Emil Weiss können sich daran nicht sattsehen. Die meisten von ihnen wachsen behütet in der Siedlung auf, in der aller Augen sich auf jeden Fremden richten würden, der es wagte, am Weiss’schen Haus vorbei tiefer in den Georgswerder Ring einzudringen. „Wir Zigeuner passen auf unsere Kinder auf“, sagt Weiss. „Wir bringen sie zur Schule und holen sie wieder ab. Oder haben Sie schon mal gehört, dass einem Zigeunerkind etwas Böses zugestoßen wäre? Oder dass einer unserer alten Menschen im Altersheim gestorben wäre? Nein, wir kümmern uns um unsere Leute bis zum Tod.“

Der etwas andere Zwerg

So, nun sei es aber genug mit der Fotografiererei, entscheidet Weiss schließlich mit gespielter Erschöpfung. Nur, um dann geschmeichelt doch noch für ein paar weitere Aufnahmen zu posieren – und uns auf ein letztes Detail seines Miniatur-Wunderlandes hinzuweisen. Eines, das eigentlich „deutscher“ nicht sein könnte. Denn da wäre noch dieser Gartenzwerg. „Fällt Ihnen was daran auf?“, fragt Weiss schelmisch.

Wenn man verneint, liefert er mit Vergnügen die Pointe: „Der Bart! Ich habe ihn schwarz angemalt. Es ist ein Zigeuner-Gartenzwerg!“