Der Kreis schließt sich: nach dem verwegen freien Tag im Frühjahr und dem kurzen Sommer der Beinahe-Normalität zuletzt noch in die Geburtsstadt gereist. Ihre Weite aufgesogen, in ihren Kulturbetrieb eingetaucht, bevor das Zeitalter des Hundes beginnt: „Wir müssen leider draußen bleiben.“
Ich sammle Wörter. So wie die Maus Frederick aus Leo Lionnis Kinderbuch lese ich Buchstaben für Buchstaben ihren Klang auf, den rheinischen Singsang der gesprochenen Sprache. Halte die Farben des Herbstes am großen Strom fest. Fange die Strahlen der sinkenden Sonne auf. Inhaliere den Wind, der hier anders weht als an der Elbe, heimeliger, mit Erinnerungsdüften befrachtet: Niedrigwasser, Lastkahndiesel, Platanenlaub.
Ich besuche ein Museum, das Wohnhaus meiner Kindheit, ein Theater, Altstadtkneipen, die Traumtänzerstraße meiner Zivildienstzeit.
Denn ich weiß: Es muss alles im Gedächtnis bleiben, nichts darf verlorengehen. Meine Aufgabe ist es, einen Erlebnisvorrat anzulegen für die kommenden Zeiten. Es ist ein sonnendurchfluteter Altweibersommerdonnerstag, dieser 23. September 2021. Nach all den Jahren einen ganzen Tag lang zu Besuch in Düsseldorf, allein mit meiner Herkunftsstadt, und noch einmal frei. Geh, wohin dein Herz dich trägt. Carpe diem. Komm, wie du bist. Kalendersprüche für ein anderes Land, eine andere Zeit.
Was ich an dieser Stadt immer geliebt habe und weswegen ich immer nur in ähnlich situierten Städten leben konnte, war ihr Strom. Kein Bach, kein Fluss. Ein Strom ist eine Naturgewalt, die selbst Völkerwanderungen für Jahrhunderte zum Stillstand bringt, Kontinente durchtrennt, Kriege entscheidet, unverrückbare Tatsachen schafft. Mit einem Strom verhandelt man nicht, ebensowenig wie mit der See. Eine Stadt an seinen Ufern gedeiht nur, wenn sie den Strom respektiert wie Almbauern den Berg. Es gilt zu lernen ihn zu nutzen. Man muss ihm Leine lassen, sich ihm hingeben, aber nicht ausliefern. Ihm Rückzugsraum gewähren und Flutfelder. Dann wird er Glück und Reichtum bringen. Und meiner Stadt, meinen Städten, hat er beides gebracht.
Wer in einer Stadt am Strom leben will, muss ein Gespür für Brücken haben. Brücken waren mir folglich immer Wunderwerke, weit sinnlicher und sinnvoller als Kirchen. Dass Menschen so etwas erschaffen können! Dass es hält, dass es trägt! Und fast nirgends, wo ich gewesen bin, können sie Brücken wie in Düsseldorf. Eine ganze Familie davon. So kühn, so grandios, so zeitlos modern, so schwerelos. Ich muss mich zwingen zuzugeben, dass sie auch hier aus Beton und Stahl bestehen, denn ich möchte an handgeschöpftes Papier glauben. Origami. Gefaltet, nicht erbaut. Nur hier in Düsseldorf war es möglich, die Oberkassler Rheinbrücke, die ich nun vom Ostufer her begehe, im Jahr 1976 um fast 50 Meter am Stück stromabwärts zu versetzen. Innerhalb von 13 Stunden wurde die gerade erst fertige Brücke, 12.500 Tonnen schwer, an ihre endgültige Position geschoben. Ein Tempo von einem Millimeter pro Sekunde.
Schlafwandlerisch setze ich meine Schritte auf den Strom hinaus, vertraue mich ein weiteres Mal blind der Origamibrücke an. Das Aroma des Rheins. Unverbaubare Aussicht. Der Wind von Westen ist noch spätsommerlich. Ich kann fliegen! Ich bin der König der Welt! In der Mitte, auf dem Scheitelpunkt dieser Welt, bleibe ich stehen und mache mit dem Handy ein Panoramafoto.
Ich bin glücklich. Das Herz geht mir auf. Die Weite – und die Fülle der Zeit: Immer, wenn ich auf Brücken stehe, zieht die Geschichte der beiden Ufer und das Wasser des Stroms dazwischen in wahnwitzigem Zeitraffer an mir vorüber. Sonnenauf- und Untergänge ohne Zahl, Tag- und Nachtwechsel, jagende Wolkenbänder, Hoch- und Niedrigwasser, Baumaschinen, Häuser, Türme, Brücken, Bomben – und alles wieder neu von vorn. Zuletzt kommt die rasende Uhr langsam zum Stehen, bis ein Zeitpunkt übrigbleibt: jetzt. Genau jetzt bin ich genau hier, weil das so sein muss an diesem Punkt in meinem Leben. Weil ich von hier herkomme – wenn auch nicht exakt von hier. Ein ganz kleines Stück weit ist es noch. Deshalb reiße ich mich vom Panorama los und gehe weiter die Brücke entlang, aufs andere Ufer zu, wie auf Autopilot, der vorgegebenen Route folgend, aber fast immer schnurgeradeaus. Und dann kommt es in Sicht.
Kann man dieses Haus suchen? Mit dem Herzen, meine ich? Diesen namenlosen, seelenlosen Wohnklotz von vorgestern, der sich an der teilnahmslosen Ausfallstraße trotzig weigert, in einer Staublawine zusammenzusacken. Stattdessen leuchtet er aktuell in verschiedenen Nuancen von Eitergelb, mit einem Handymast on top als ultimativem Stinkefinger an die Baukultur. Ich habe dieses Haus jedenfalls immer wieder einmal gesucht und wiedergefunden, zu allen Zeiten, längst ohne noch jemanden dort zu kennen. Wahrscheinlich wollte ich mich jedes Mal aufs Neue vergewissern, dass meine innere Erzählung noch stimmt, dass ich hier im vierten Stock wirklich die Jahre meiner Kindheit verbracht habe.
Dasselbe Gebäude im Dezember meines Geburtsjahres, 1966. Vermutlich bin ich da gerade zuhause. Täusche ich mich, oder wirkt es leichter, eleganter, ja fast optimistisch in seiner Farbgebung und Architektur? Ja, natürlich täusche ich mich. Trotzdem konnte alles, was man damals in der Preisklasse des sozialen Wohnungsbaus errichtet hat, über die Jahrzehnte nur verlieren: durch Abwohnen, durch immer wieder neue Reparaturen, erneutes Runterrocken, wechselnde Immobiliengesellschaften als Eigentümer, die Wellen neuer Wohnungssuchender, den unbesiegbaren Zahn der Zeit. Aber damals war dies eine Gegend des Aufbruchs. In alle Himmelsrichtungen offen.
Ich wuchs in diesem Haus nicht als unglücklicher Junge auf, das wurde ich erst nach dem Wegzug der Familie aufs Dorf. Bis dahin hatten wir, die Kinder des Hauses, Spaß. Auf den ungesicherten Baustellen der noch kaum erschlossenen Anliegerstraßen rodelten wir die Lehmberge, die von den Baugruben-Baggern aufgesschichtet worden waren, auf Plastikfolien hinab. Oder versteckten uns unter Bauwagen, um zu beobachten, wie die mit Teppichstücken abgedeckten Fallgruben, die wir für Passanten auf halbfertigen Gehwegen gegraben hatten, funktionieren würden. Bis zum Tag X, als der Umzugswagen kam, hatte ich das Suburbia der Großstadt als Revier zu lesen gelernt. Ich fand zu Fuß oder mit dem Kinderfahrrad meine Wege bis hin zum Rheinufer von Oberkassel, wo die große Glitzerwelt begann. Dann, als ich bereit war für diese Welt, musste ich fort.
Als ich dieses Mal ankomme, steht die Haustür angelehnt, weil ein Elektrokabel hindurchführt. Eine Dachsanierungsfirma ist am Werk, und eine Gruppe japanischer Immobiliengesellschafter in Anzügen und mit iPads in den Händen patroulliert aufgeregt durchs Gebäude. Alle machen wichtige digitale Aufzeichnungen. Dieses Haus gehört also jetzt Japanern. Das ist nur konsequent, denn der ehemalige Stahlstandort Düsseldorf ist seit meiner Kindheit eine der größten japanischen Exklaven weltweit. Früh gab es in dieser Gegend ein japanisches Gymnasium, die Waren des japanischen Supermarkts waren in der Landessprache ausgezeichnet. Heute ist am Klingelbrett jeder zweite Name japanisch oder zumindest asiatisch. Im vollverglasten Erdgeschoss-Büro stehen hinter der Eingangstür eine Reihe Pantoffeln für die Mitarbeiter und Besucher bereit.
Im klapprigen Fahrstuhl drücke ich dieselben Knöpfe, die meine Eltern vor einem halben Jahrhundert gedrückt haben. Die Müllschlucker, die auf jeder Etage des Treppenhauses neben dem Aufzugschacht in die Wand eingelassen waren und durch die der Abfall einfach in die Tonnen im Keller polterte, sind zugemauert worden. Im siebten Stock geht es nicht höher. Ich steige aus, und die Tür zur schmalen Dachterrasse steht ebenfalls offen. Baugerüste rahmen alles ein. Vermutlich zum ersten Mal in meinem Leben klettere ich durch die Luke und stehe auf dem Dach. Weit geht der Blick über meine alte Heimatstadt. So grün, das wusste ich gar nicht. Die Auferstehungskirche, wo mein Kindergarten war. Der Barbarossaplatz mit dem Brunnen. Dort hinten der Fernsehturm, schon auf dem anderen Rheinufer. Es scheint alles so naheliegend – wenn ich nur wüsste, was. Adieu, glitzernder Sechzigerjahreschnee von gestern. Der kleine Junge wohnt hier nicht mehr.
Zurück auf der Ostseite des Stroms. Es ist Mittag, und ich gehe ins „K20“, die Abteilung des 20. Jahrhunderts in der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen. Denn hier wurde soeben die große Braque-Ausstellung eröffnet: sein Weg in den Kubismus. Ein Coronatest ist hier nicht notwendig, Maske genügt. Und die Ausstellung erweist sich umstandslos als großartig. Eine gut sortierte Auswahl hochkarätiger Gemälde, auch von befreundeten Malern, die das gegenseitig Inspirierende sofort ausstrahlen, als sei wieder 1907.
Mit zwischendurch eingestreuten Erklärungen und Filmen zu den Ereignissen, die seinerzeit die Welt in Atem hielten, vermittelt die Schau, wie sich die Künstler gemeinsam hineinstürzten in diese neue, stürmische Epoche, als alles anders wurde durch menschlichen Erfindergeist. Die Zeit selbst geriet ins Schwimmen, denn Einstein entwickelte die Relativitätstheorie, und von da an konnte man Dinge nicht mehr einfach in falscher Eindeutigkeit abbilden, drei Dimensionen reichten nicht mehr. So begannen Braque und seine Malerfreunde, die vierte mit einzubauen und alles Seiende als unentwirrbare Raumzeit anzuerkennen. Ein Musikinstrument, das gespielt wird, ist ein raumzeitlicher Vorgang, der in Wellen und Schwingungen zerfällt: Kubismus. „Das Bild hat Wahrheit, aber keine Logik.“ Ja, großartig.
Während ich noch die Exponate entlangschlendere, bemerke ich, dass ein Fernsehteam mit aufgeständerter Kamera Aufnahmen in den abgedunkelten und noch fast menschenleeren Ausstellungsräumen macht. Die beiden TV-Leute tun ganz unbeteiligt (Pfeifen hätte noch gefehlt), aber ich war mal in ihrer Position und weiß: Sie lauern auf Besucher, die das Standbild mit ihrem Hindurchgehen und Betrachten der Kunstwerke beleben. Also gehe ich hindurch und betrachte, jetzt aber unter Beobachtung. Sogleich merke ich, dass die Kulturredakteurin innerlich flucht. Ich bin ihr nicht telegen genug. Sie hätte lieber eine hübsches junges Paar. Tja, Journalistenpech. Ich kann mich weder zweiteilen noch schöner machen, als ich bin. Und so relativ die Zeit auch ist: Ich habe noch einiges vor heute und muss weiter.
Die Straße, die mein nächstes Ziel ist, liegt zufällig in Gehweite meines Hotels. Abenteuerspielplatz meiner Zivildienstzeit, als ich vom ländlichen Niederrhein bei erster Gelegenheit geflüchtet und für zwei Jahre wieder nach Düsseldorf zurückgekehrt war: die Kiefernstraße. Andere Städte hatten ihre Hafen- oder ihre Liebigstraße, in Flingern war es die „Kiefern“, eine um kurz nach 1900 vorbildlich angelegte Arbeitersiedlung. Mehr als acht Jahrzehnte später längst fast ohne Arbeiter. Dafür mit umso mehr Punks, Asylanten, Junkies, Stadtguerilla. Auflehnung und Krawall, Pose und Provokation. Besetzte Häuser, wie toll war das denn! Da musste man damals hin. Vor allem, wenn man selbst in einer traumatischen Zehn-Quadratmeter-Butze innerhalb des Pflegeheims der Caritas hauste, wo man alten Menschen die Hintern abwischte.
Erwartet hatte ich, hier und heute aufgehübschte, sauber gekärcherte Altbauten vorzufinden, längst komfortsaniert, gentrifiziert und von den Großeltern der Revolutionskriege bewohnt, deren Enkelkinder auf kirchlich geführte Gymnasien gehen. Aber tatsächlich scheint die seit Einstein und Braque relative Zeit in diesem Winkel stehengeblieben zu sein. Gut, ein wenig bunter ist das Bild geworden, street artists haben hier ein reiches Betätigungsfeld gefunden.
Ich weiß noch, wie es bei meinen Besuchen hier vor 35 Jahren immerzu wenn nicht nach Gras, dann nach feuchtem Mörtel roch. Weil die Dächer undicht waren, die Haustüren meist offenstanden und der Schwamm im Gemäuer saß. Aber das musste so. Irgendwann sind die Dächer von der Stadt wohl neu gedeckt worden. Aber die Haustüren stehen immer noch offen – und der Geruch von feuchtmuffigem Mörtel, er weht immer noch auf die Straße. Dreieinhalb Jahrzehnte später.
Natürlich waren wir politisierten und Tee mit Amaretto trinkenden Zivis, die endlose 20 Monate Dienst leisten mussten, auch Opfer des imperialistischen Systems. Und Düsseldorf war schon damals Bonzen-Town. Daher waren wir sowas von voll solidarisch mit dem Verein „Direkte Aktion Wohnungsnot“. Er publizierte 1986 die schülerzeitungsartige Dokumentation „kiefernstraße 1-37“, die bis heute in meinem Besitz ist. Sie hat jeden Umzug mitgemacht. Vielleicht, damit ich nun daraus zitieren kann.
Das Impressum entschuldigt sich gleich zu Beginn: „Da es unmöglich und ungesund ist, alle Gruppen und Personen der Kiefernstraße zu dokumentieren, haben wir einen Querschnitt zusammengestellt. Nix-da-Leute, Antiimps, Autonome, Schwule, Punx aus der 13, Diana, Anita, Helga, Britta, Gaby, die neubesetzten Häuser 7 und 9 haben was geschrieben, was sich so ab Seite 16 und später wiederfindet!“ Oh, in den Achtzigern waren die Brittas und Gabys noch zufrieden mit dem generischen Maskulinum. Die Ärmsten, sie wussten noch nicht, wie das Patriarchat sie damit unterdrückte. Wer aber waren wohl die Gruppen und Personen, über die zu schreiben „ungesund“ gewesen wäre? Und die Lesben? Warum unterschlägt das Impressum sie? Oder gingen die gar als schwul durch? Reaktionäre Zeiten waren das …
Aus dem Heft fällt, lose eingelegt, noch ein zusammengetackertes Bündel von DIN-A4-Seiten, das ich damals irgendwo in diesen Häusern eingesteckt hatte. Dicht gedrängte, maschinengetippte Zeilen in Kleinschreibung: „heute haben wir das wissenschaftliche zentrum des ibm-konzerns in der brd, treibende kraft in der technolgischen durchstrukturierung/formatierung westeuropas unter der hegemonie des internationalen us-kapitals für den imperialistischen krieg, angegriffen …“ Das passt perfekt zu den „schweinen“, von denen bei der „direkten Aktion Wohnungsnot“ mit großer Selbstverständlichkeit und ebenfalls kleiner Schreibung die Rede war. Deutsche Sprache, deutscher Geist, deutsche Gnadenlosigkeit.
Unterschrieben ist das „kommunikee“ mit „kämpfende einheit hind alameh“ – angelehnt an eine Palästinenserin, die zu den Entführern der Lufthansa-Maschine nach Mogadischu gehörte. Es war die Zeit, als die Kiefernstraße im Verdacht stand, späten RAF-Kadern Unterschlupf zu bieten, und deshalb Ziel polizeilicher Razzien war. Was für ein prickelndes Gefühl, Mitte der Achtziger, diese billig hektografierten Seiten in den Fingern zu halten. Nachrichten von der unsichtbaren Front, militant, unbeirrt, besoffen vor Selbstgerechtigkeit. So waren sie, so sind sie, so werden sie sein. Sie haben die revolutionäre Moral und Wahrheit mit Löffeln gefressen. Ich bin so froh, dass ich nicht mehr jung sein muss in diesen Tagen, in diesem Milieu.
Da schaue ich lieber, die Spätnachmittagssonne im Gesicht, am Rheinufer den Open-Air-Tänzern zu. Es gibt dort einen Standardtanz-Grundkurs, cha-cha-cha. Und Wech-sel-schritt! So schön, lebendige, maskenfreie Menschen aufeinander bezogene Schritte üben und gar auf Tuchfühlung gehen zu sehen. Ein Gegengift gegen die zurückliegenden – und kommenden – Monate des Rühr-mich-nicht-an-du-bringst-mich-um. So normal. So außergewöhnlich.
Als ich auf die Uhr blicke, ist gerade noch ein Stündchen Zeit für die gleich angrenzende Altstadt, die „längste Theke der Welt“, die zwar eine Touristen-Illusion ist, aber bei gutem Wetter tatsächlich eine mehrere Straßenzüge lange Außengastronomie bietet. Der Radschlägerbrunnen auf dem Burgplatz ist ihr Vorposten. Gestiftet hat ihn der Heimatverein „Düsseldorfer Jongens“, viel heimattümelnder wird es nicht mehr. Von hier aus geht es in das Gassengewirr zwischen Bolker- und Ratinger Straße, wo in der Hausnummer 10 bis ins Jahr 1989 der Ratinger Hof war, die Wiege des deutschen Punk.
Hier spielten ZK, die Vorgänger der Toten Hosen. Hier las der Dichter Jürgen Kling, hier trank Joseph Beuys sein Alt und ich auch, zu Zivi-Zeiten. Nicht, dass ich einen von denen gekannt hätte, aber immerhin. Heute: mir unbekannte Läden dicht an dicht, besoffene Engländer geben grölend und sich übergebend den Ton vor. Irgendwo weist passend dazu ein Schild auf die Spezialität des Hauses hin: Frosch-Kotze. Ein Drink, offenbar. Und führe uns nicht in Versuchung.
Beim Brauhaus Füchschen, nur ein paar Häuser weiter, muss ich selbst für den Außenbereich nicht nur den aktuellen Coronatest vorzeigen, sondern dazu auch einen Ausweis. Das kannte ich so nicht, rheinisches Laissez-faire ging immer anders, aber es passiert mir in diesen 24 Stunden mehrmals. Ordnungsamts-Streifen sind unterwegs, die Wirte haben nach einem halben Jahr Lockdown keinen Bock auf Stress. Was immer noch gilt: Solange du den Bierdeckel nicht oben auf dein Altbierglas legst, wird ungefragt ein neues gebracht.
Im Schnitt sind diese neu hingestellten 0,2-Gläser in der Altstadt immer so knapp drei Fünftel voll, da ist der schnelle Nachschub auch nötig, wenn es überhaupt je was werden soll mit dem Pegel. Zwischendurch muss ich allerdings wenigstens den Flüssigkeitspegel senken gehen, so dass mein Platz mit leerem Glas verwaist daliegt. Als ich zum Biertisch zurückkomme, will der Oberköbes gerade Zechpreller-Alarm schlagen und ist bei meinem Anblick erleichtert: „Dacht schon, do hätts‘ dich verpisst!“ – „Hab ich ja auch!“, sage ich, für meine Verhältnisse schlagfertig.
Dann ist da noch irgendeine andere Kneipe, sehr lauter, aber erstaunlich guter Hardrock, sonst gar nicht mein Fall. Diesmal ist mein Platz an der Theke. Eine Frau meines Alters, deren Begleiter auch gerade mal um die Ecke gebogen ist, muss über irgendwas lachen, das ich zum Wirt sage, und es ist ein schönes Lachen, und ich lache sie auch an, denn das macht Altbier mit einem, es macht nicht wirklich breit, sondern lachbereit. Dann kommt ihr Begleiter zurück und ich zahle und gehe, denn ich bin allein und es kann gar nicht anders sein.
In einer namenlosen Nebengasse ziehe ich aus einem von drei nebeneinander in die Wand eingelassenen Sparkassenautomaten 70 Euro, wie ich glaube. Es kommen aber nur 50 aus dem Schlitz. Verdutzt checke ich das Konto auf dem Handy: Ha, 70 wurden abgebucht! Betrug! Hallo! Ich! Opfer! Auch das macht Altbier mit einem. Am nächsten Morgen, nachdem ich ohne Beweis oder Zeugen bei der Sparkasse angerufen und mich beschwert habe, wird mir dämmern: Nein, abgerechnet wurden exakt 50, und es war die falsche Taste, und ich bin wieder nüchtern und immer noch doof.
Vorerst aber hopp, hopp, mit minimalem Räuschlein auf ins Theater. Nicht irgendein Theater, nicht irgendein Autor oder irgendeine Aufführung. Am Düsseldorfer Schauspielhaus, einer der renommiertesten Bühnen im Land, ist heute Abend Premiere: Rainald Goetz, der manische Dramatiker, mit „Reich des Todes“. Es soll eine Allegorie des Terrors an und für sich sein, eine Studie der Bestie Mensch. Ausgehend von 9/11 und einem (konservativen) Amerika, das sich mit Folter und Morden auf das animalische Niveau seiner Feinde hinabsinken lässt.
Nur wäre es nicht Reinald Goetz, wenn hier mit Empathie auch der amerikanischen Opfer des von Islamisten entfesselten Terrorkrieges gedacht würde. Nichts da: Der Westen ist böse, böse, böse. Und woraus besteht der Westen? Aus Bushs/Trumps Amerika und Hitlers ewigen Schergen natürlich. Deutschland, der Terrorstaat. Nach einer Weile dürfen deshalb endlich Nazis in langen Ledermänteln die Bühne übernehmen und uns brüllend vermitteln, dass sie eigentlich wir sind. Täter. Schuldig.
Es wird überhaupt fast nur gebrüllt in diesen zweieinhalb pausenlosen Stunden. Was erstaunlich ist, angesichts eines rein weiblichen Ensembles. Aber diese Frauen leben all die bestialischen alten weißen Männerrollen mit großer Inbrunst und Lust an der Perversion aus, sie suhlen sich regelrecht darin. Natürlich wird auch nicht am Vergewaltigen und Erniedrigen gespart, immer im Rhythmus von: Deutsche sind der letzte Dreck. Und hier dürfen sie mal ungestraft exakt so dreckig sein, denn: Ist ja alles nur Spiel! Zur Abschreckung und zur Mahnung! Was kann ich mich glücklich schätzen, auf dem billigsten Platz in der letzten Reihe zu sitzen und am Handy spielen zu können.
Als ich schon glaube, es hinter mir zu haben, kommt erst der Höhepunkt: der mehr als halbstündige, ohne Luft zu holen gebrüllte, sogar nach Abgang des übrigen Ensembles und Abschalten des Mikrofons noch weitergebrüllte Monolog einer Schauspielerin, in dem es irgendwie um die Unfähigkeit des Theaters zu gehen scheint, den wahren Schrecken der Folter adäquat zu vermitteln. Doch ich kann sie beruhigen: Ich fühle mich angemessen terrorisiert und gequält, vielen Dank. Noch nachts im Hotelbett werden mir die Ohren klingeln. Goetz kann stolz auf sich sein. Sein Naziporno bekommt am Ende donnernden Applaus von denen, die nicht schon vorher geflüchtet sind.
Wohl ganz gut, das als vorerst letzten Eindruck von einer deutschen Subventions-Bühne mitgenommen zu haben. So hat man für längere Zeit nicht mehr das Gefühl, etwas zu verpassen. Unterdessen zieht der alte Vater Rhein in seinem Bett dahin, majestätisch, ungerührt von allem Menschengeschrei. Und so wird er noch strömen, wenn wir eines Tages wieder aufwachen und uns in einem ganz normalen Leben wiederfinden. Dann möchte ich das nächste Mal auf einer Düsseldorfer Rheinbrücke stehen. Aber erst dann.
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