Im Leben, aber auch in der TWASBO-Redaktion prallen die Meinungen gelegentlich aufeinander. Also lassen wir Sie daran teilhaben. Der aktuelle Streitfall: Dank Amazon Prime tauchen in Tolkiens Mittelerde plötzlich schwarze Hobbits auf. Kulturschock oder wurschtegal – diskutieren wir es aus!


Buchal:

Am 30. Juli dieses Jahres starb die Schauspielerin Nichelle Nichols, bekannt als Lieutenant Uhura aus der Originalbesatzung des Raumschiff Enterprise. 1966 war sie die erste schwarze Frau im Weltall, zumindest in Gene Roddenberrys fiktiver Zukunftsvision. Tatsächlich strahlte Star Trek als Serie und Uhuras Rolle im besonderen so stark auf die Kultur ihrer Zeit aus, dass sich Nichelle Nichols schon bald als reale NASA-Botschafterin wiederfand, die Frauen und Afroamerikaner für die Raumfahrt begeistern sollte. Und es war niemand geringeres als Martin Luther King, der die Schauspielerin damals überredete, ihre Rolle als Uhura nach der ersten Staffel nicht an den Nagel zu hängen. Ihr selbst war anfangs wohl nicht bewusst, welche Symbolkraft von dieser Rolle ausging. Nichols hakte damit bereits vor mehr als 50 Jahren sämtliche Punkte ab, die heute wieder unter dem Stempel der „Diversity“ und „farbenblinder Rollenbesetzung“ die Runde machen – mitten in der heißen Phase der schwarzen Bürgerrechtsbewegung, als die Südstaaten noch mit aller Gewalt um die Erhaltung der Rassentrennung kämpften.

Warum erzähle ich Ihnen das alles? Weil ich im Herzen noch immer ein Trekkie bin und weil ich auch aus dieser Position heraus die Aufregung um Hautfarben in Kino und TV, die fast zeitgleich mit Uhuras Ableben wieder einsetzte, nicht richtig nachvollziehen kann. Statt der Besetzung von Raumfahrt-Offizieren wurden in den vergangenen Monaten kleine Meerjungfrauen und spitzohrige Fabelwesen aus dem „Herrn der Ringe“ diskutiert. Und ich bin nicht sicher, ob ich dies als Zeichen des Stillstands oder einer zunehmenden gesellschaftlichen Infantilisierung deuten soll. Da ich aber weder mit J. R. R. Tolkien noch mit den Disney-Versionen alter europäischer Märchen sozialisiert wurde, übergebe ich an dieser Stelle an Herrn Driesen. Wo also, werter Kollege, liegt hier das Problem?


Driesen:

Das Problem, werter Kollege: Utopistische Space Operas des 20. Jahrhunderts sind eine Sache, ein Kulturerbe ist etwas ganz anderes. Tolkien hat seine Mittelerde-Welt des „Herrn der Ringe“ nicht aus der Luft gegriffen. Grundlage war für ihn als in England aufgewachsenen Philologen ein uralter nordeuropäischer Sagenschatz, etwa die isländische Edda, das angelsächsische Heldengedicht Beowulf oder das deutsche Nibelungenlied. Daraus zog er seine Motive, seine Drachen, seine Könige und Orks. Deshalb war Tolkiens Auenland von weißen Hobbits bevölkert, saß für ihn der Feind (Sauron) im Osten, und gegen dessen finstere Armeen mussten die „freien Völker des Westens“ das Licht der Aufklärung verteidigen. Wenn ich im aktuellen Amazon-Prime-Remake des „Herrn der Ringe“ beziehungsweise seiner Vorgeschichte nun plötzlich dunkelhäutige Hobbits und Helden, dafür aber deutlich weißere Orks vorgesetzt bekomme, dann fühlt es sich nicht nur an wie eine „cultural appropriation“, also eine umgekehrt von Schwarzen gern beklagte kulturelle Übergriffigkeit, dann ist es auch eine.

Ich würde im Traum nicht auf die Idee kommen, die Heldensagen afrikanischer Ethnien durch weiße Schauspieler re-inszenieren zu lassen, womöglich auch noch in Landschaften und Gewändern, wie sie beispielsweise Ostafrikaner in der Zeit des nordeuropäischen Mittelalters gekannt haben mochten. Denn diese weißen Schauspieler könnten das alles zwar nachahmen und die Texte auswendig aufsagen – aber verkörpern könnten sie es nicht. Denn dazu muss man halt mittels seiner Vorfahren selbst über Jahrhunderte in diesen Breiten- und Längengraden verwurzelt gewesen sein. Sonst kommt es rüber wie „Blackfacing“: deplatziert, aufgesetzt und entweder anbiedernd oder verhöhnend. Und das will ja heute niemand mehr – außer, es verspricht globale Reichweitengewinne.


Buchal:

Wenn es um die Verkörperung tatsächlich historischer Figuren ginge, würde ich zustimmen. Auch, dass es umgekehrt ganz sicher als kulturelle Aneignung gelten würde, wenn z.B. Matthias Schweighöfer plötzlich die Hauptrolle in einer Neuverfilmung von „Shaka Zulu“ spielen würde. Die Welt von Mittelerde ist aber doch immer noch eine rein fiktive, oder? Tolkien mag ja von nordeuropäischen Mythologien beeinflusst worden sein – und ja, Nordeuropäer waren historisch wohl eher blasser Hautfarbe – dennoch haben wir es hier mit einer Märchenwelt zu tun, in der sich Fantasiewesen, Gnome, Drachen, Monster und Zauberer tummeln. So etwas einerseits als kulturelles Erbe zu bezeichnen und sich andererseits über mangelnde Authentizität bzw. fehlende Verwurzelung der Darsteller zu beschweren, erscheint mit etwas seltsam. Noch seltsamer finde ich es, lyrische Bilder wie „finstere Armeen“ und das „Licht der Aufklärung“ mit Hautfarben zu assoziieren.

Für mich ist eine Space Opera wie Star Trek tatsächlich gar nicht so weit vom „Herrn der Ringe“ entfernt. Sowohl Roddenberry als auch Tolkien haben neue Welten erschaffen inkl. fiktiver Helden und Bösewichter. Und um noch mal auf die Spitzohren zu kommen: Der Vulkanier Mr. Spock wurde von einem Juden vom Planeten Erde gespielt – ist das auch kulturelle Aneignung? Oder anders gefragt: was macht das Volk der Elben realer als das Volk der Vulkanier?


Driesen:

Mr. Nimoy alias Spock war lediglich ein Halb-Vulkanier, Herr Kollege! Die andere Hälfte war Mensch, gerade du als bekennender Trekkie solltest mit diesen wichtigen ethnologischen Fakten nicht schlampig umgehen. Aber ich gebe zu, ein Jude mit Spitzohren, von dessen irdischer Teilherkunft man fachsimpelt wie vom genetischen Code des Homo Neanderthaliensis, lässt die Grenzen zwischen Märchen- und Realwelt nahezu rettungslos verschwimmen. Seither könnte man Hollywood also einen Freifahrtschein ausstellen: bitte alle Wirklich- und Unwirklichkeiten, alle Farben und Völker beliebig durchrühren und neu verfilmen! Nach dem Motto: Eh schon alles egal, die Welt ist rund und der Dollar überall grün. Und ich weiß auch, dass es in späteren Star-Trek-Spinoffs dunkelhäutige Vulkanier gab, deren Ohren genauso spitz waren wie die der dunkelhäutigen Elben von Amazon Prime. Insofern: Punkt für dich, die Spitzohren dieser Welt sind alle gleich surreal. Was natürlich nicht für die Schlitzaugen gilt. Echte Menschen derart über einen rassistischen Kamm zu scheren, verbietet sich von selbst.

Gerade deshalb aber zu deiner Bemerkung, die historische europäische Leistung der Aufklärung könne man doch wohl nicht mit einer Hautfarbe in Verbindung bringen: Äh, doch. Wir hatten ja nichts anderes! Oder nenne mir einen schwarzen Philosophen dieser Denkschule. Nicht mal Wikipedia konnte das bisher historisch umlügen. Weshalb ich auch sehr unwirsch würde, wenn man Kant oder Leibnitz mit einem andersfarbigen Schauspieler besetzen würde. Oder, um den Bogen zu schließen: Herrn Tolkien.


Buchal:

Asche auf mein rundohriges Haupt dafür, dass ich Spocks Mixed Species Identity hier nicht korrekt benannt habe! Was den Begriff der Aufklärung angeht, missverstehen wir uns allerdings. Auch dabei geht es nicht um reale historischen Vorbilder, also die Vertreter der europäischen Aufklärung – ich bezog mich auf das von dir erwähnte symbolische „Licht der Aufklärung“, welches offenbar gegen einen gewissen Sauron verteidigt werden soll. Wenn wir also noch mal kurz in Mittelerde bleiben und ich dich richtig verstehe, sollen die Hobbits bitte möglichst weiß bleiben und die finsteren Armeen des Ostens, nun ja „finster“. Dort mit falscher Hautfarben-Besetzung Unordnung zu stiften, ist ein Sakrileg gegen Tolkien und dessen Kulturerbe, richtig?

Ich weiß, dass Konservative und Puristen so etwas nicht gerne hören, aber europäische Märchen und Mythen sind für Hollywood (bzw. heute Amazon oder Netflix) vor allem eine billige und ergiebige Geschichten-Quelle, Disney macht dies ja bereits seit längerem vor. Warum auch nicht? Nichts ist wertvoller in der Unterhaltungsindustrie als gute Stories. Einmal in der Industrie angekommen, werden diese Geschichten dann natürlich nach deren Regeln umgesetzt. Tolkien-Fans der ersten Stunde sind da wohl weniger die Zielgruppe, eher ein jüngeres, internationales Publikum. Ob das dann anbeißt, ist eine andere, letztlich kommerzielle Frage.

Abgesehen vom kommerziellen Aspekt könnte man aber Mythen und Dichtungen auch als Teil eines eher universellen Kulturerbes ansehen, bei dem vielleicht die Fabel wichtiger ist als die Herkunft der Autoren und das daher Nationalitäten und Hautfarben irgendwann auch transzendiert. Ein Beispiel aus der Opernwelt: die beste Interpretin von „Isoldes Liebestod“ ist für mich bis heute Jessye Norman. Und zwar mit Abstand. Nun wird in der Klassik natürlich eher nach Stimme und Instrument besetzt, daher hinkt der Vergleich wohlmöglich etwas. Andererseits ist die Oper aber auch eine visuelle Kunst. Was hätte wohl Richard Wagner davon gehalten, dass seine Isolde von einer Afroamerikanerin verkörpert wird oder dass Christoph Schlingensief seinen „Parsifal“ in Bayreuth dramaturgisch durch den Fleischwolf dreht? Gerade Wagners Stoffe waren ja auch tief in der europäischen Erzählkunst verwurzelt. Sie haben sich aber irgendwann von der Werktreue ihres Autoren gelöst und wurden zu universellen Stoffen, die eben auch vom jeweiligen Zeitgeist interpretiert werden. So, nun lasse ich mich gerne als Globalisten beschimpfen. In der Zwischenzeit hole mich mir noch schnell eine Tasse kolumbianischen Kaffees.


Driesen:

Kolumbianischer Kaffee! Während ich hier an meiner lauwarmen reichsdeutschen Wassersuppe nippe! Gut, ich gebe zu, die betörende Norman macht mir kurzzeitig das Argumentieren schwer. Aber in jedem seriösen Debattierclub wird ihre Verwendung als unerlaubtes Doping disqualifiziert. Sie soll auch bloß von einem meiner Lieblings-Bullshits ablenken: „Sobald eine Geschichte mal in der Welt ist, gehört sie sowieso allen.“ Ja, so argumentieren Produktpiraten! Immer, wenn eines meiner Bücher auf einer Hacker-Webseite zum „freien“ Download erscheint, inklusive Viruspaket natürlich, freu ich mich wie Bolle über diese Art von kultureller Freigiebigkeit. Vor allem, wenn sie von Leuten propagiert wird, die selbst keinerlei Kreativität (oder auch nur Identität) zu bieten haben – wie etwa die Executives gewisser US-Konzerne. Was Amazon da macht, ist Produktpiraterie im Globalmaßstab. Angeblich universelle Erzählungen abgreifen und ausmelken, zuvor aber gründlich modifiziert nach den neuesten woken Compliance-Regeln.

Also schön, ich arrangiere mich notgedrungen mit der Existenz kaffeebrauner Hobbits, tiefbrauner Elben und kalkweißer Orks. Kann ich sowieso nicht verhindern, wird mir auf allen Kanälen weiterhin reingedrückt werden. Dafür sorgen schon die Colorblind-Casting-Paragraphen in den Produktionsstatuten von Film und Fernsehen. Aber so ein ganz klein bisschen Schadenfreude kann ich mir dann doch nicht verkneifen, dass die erste Staffel von „The Rings of Power“ mittlerweile grandios gefloppt hat. Vielleicht konnte sich die Welt damit einfach nicht identifizieren.


Fazit:

Eine wirkliche Einigung ist hier nicht in Sicht. Kollege Driesen täuscht Kapitulation vor, während er sowohl Tolkiens als auch sein eigenes Kulturerbe weiterhin gegen feindliche Übernahmen verteidigt. Kollege Buchal sieht das Thema auf seiner Raumstation entspannter, auf der allerdings langsam der Kaffee knapp wird. Irgendwo dazwischen lauert bereits der nächste Diskurs, sie zu knechten.


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