Wie „Marx“ und „Brille“ wieder einmal meinen Tag machten
Manchmal, wenn es im Büro allzu tumultös hergeht, legt es meine Arbeit als Autor nahe, mir einen ruhigeren Ort zum Schreiben zu suchen. Dann weiche ich aus alter Gewohnheit gerne in die Staats- und Universitätsblibilothek aus. Auf diese Weise sind zwei meiner Bücher zu großen Teilen dort entstanden, wo mich nebenbei Millionen Bände Fachliteratur durch ihr Vorhandensein in Reichweite beruhigen.
Ich liebe die konzentrierte und höchstens mal durch ein schuldbewusstes Wispern gestörte Stille der Lesesäle. Am schönsten wird sie übrigens in Wim Wenders‘ wunderbarem Schwarzweißfilm „Himmel über Berlin“ gewürdigt: wenn die Kamera über den Reihen der Lesenden und Lernenden einer Berliner Bibliothek dahinschwebt und all das Wissen, das aus den bedruckten Seiten in die Köpfe wandert, während dieser Kamerafahrt kurz als geflüsterter Text hörbar wird.
Und ich mag es, ein kleines Café nur eine Treppe weit entfernt zu wissen. In der „StaBi“ ist es das Café Libretto. Ein Stück Lebensqualität, vor allem dann, wenn Hochsommer ist und die Hälfte der Studierenden weiblich, ja doch, das Autorenleben hat trotz Zeitungskrise durchaus attraktive Aussichten. Aber was ich eigentlich berichten wollte:
Das alles wird noch übertroffen durch ein Schauspiel, das von allen Staats- und Universitätsbibliotheken Deutschlands wahrscheinlich nur die Hamburger StaBi zu bieten hat. Ich war etwa ein Jahr lang nicht mehr an diesem Ort gewesen und deshalb ein klein wenig in Sorge, sie könnten nicht mehr da sein. Doch so sicher wie das Amen in der Kirche waren sie da, geradewegs im Libretto, wie immer am Tisch mit Blick auf die an der Kasse vorbeidefilierenden Studentinnen-Rückseiten.
C’est une Universitätsbibliothek, n’est pas?
Es handelt sich um zwei Herren in den, hm, besten Jahren? Falls die späten Sechziger die besten Jahre sind. Jedenfalls sicher jenseits der Pensionierungsgrenze, wenn auch vermutlich nicht emeritiert mangels jemals erlangter Professorenwürde. Auf mich wirken sie eher wie ergraute Privatdozenten. Oder enge Freunde des vor zehn Jahren verstorbenen Hausmeisters. Man weiß es nicht.
Der eine von ihnen sieht mit weißer Mähne und Wallebart aus wie Karl Marx persönlich. Der andere, mit starker Brille und fast glatzköpfig, wetteifert mit ihm um den perfekt zylindrischen Körper, doch dieser interne Wettbewerb hält ihn nicht vom Tragen knielanger Funktionshosen in Beige ab. Der mit der Brille hat meist eine „Monde Diplomatique“ dabei, und er scheint sie nicht als Tarnung oder Alibi zu benutzen, sondern tatsächlich willens und in der Lage zu sein, darin zu lesen. Ich meine: Es ist eine Universitätsbibliothek, n’est pas?
Er kommt aber meist nicht lange zum Lesen, sondern es tritt eben schon früh am Vormittag Karl Marx hinzu, und dann wird diskutiert. Den ganzen lieben langen akademischen Tag lang, weitestgehend ohne etwas Materielles zu konsumieren. Warum auch, wenn es so viel Geistiges gibt: Weltpolitik, Militärgeschichte, Holocaust-Forschung, Matthias Claudius, Rommel, Heisenberg, eins gibt das andere, es ist ja unglaublich.
„… es ist ja unglaublich, was für eine jahrzehntelange Misswirtschaft die Bremer SPD zu verantworten hat …“
Und 18 Sekunden später, ungelogen, ich saß daneben:
„… das ist Teil der Hannoverschen evangelischen Kirche, da gibt es keine Mönche mehr …“
Und erneut ein Augenzwinkern danach:
„… genau wie dieser Fußballer, Müller, der kommt aus der Ecke, wo sich das Bayerische, Fränkische und Alemannische treffen …“
Jedes dieser Themen wird immer kurz gegenseitig bestätigt und abgenickt, „jaja, nicht?“, so dass klar ist, dass man im Großen und Ganzen derselben akademischen Schule angehört, alles in Ordnung also, keine Feindseligkeiten. Der Redestrom aber nimmt und nimmt kein Ende, Stunde um Stunde. Und an nie vorhersehbaren Stellen wird herzlich gelacht, das heißt weniger herzlich als einvernehmlich, oder vielmehr freudlos akademisch, denn dies war soeben eine kleine intellektuelle Pointe, jaja, nicht?
Nur habe ich die leider wieder nicht verstanden, also akustisch jetzt, obwohl ich mich zum Zweck dieser Niederschrift am Nachbartisch von Karl Marx platziert habe. Aber sie wenden sich halt einander zu und nicht mir. Deshalb fange ich nur Fragmente auf – wie über die Jahre hinweg schon immer, wenn diese beiden in der Nähe des Tisches hockten, an dem ich mit meinem Kaffee saß.
Schikorsky, sagen die Russen
Nun geht Marx mal eben fort, und der Kollege sitzt allein da, greift ansatzlos zum ebenfalls mitgeführten Feuilleton der Süddeutschen Zeitung und muss angesichts des Aufmacherbildes, einer Szene von Hieronymus Bosch, auf einmal schallend laut und etwas höhnisch lachen, ganz für sich allein.
Aber da ist Marx auch schon wieder zurück hat nun bezauberner Weise eine ausfaltbare Wanderkarte des Mittelweserraums dabei, so dass man übergangslos vom mittelalterlichen Maler her kommend den Flussverlauf studiert, worauf der mit der Brille aber wiederum ohne Umwege auf Bakunin kommt und ich die Herleitung schon wieder nicht richtig mitbekommen habe, könnt ihr nicht mal deutlicher parlieren, mon dieu? Zur Hölle auch, Espressomaschine! Wenn ihr Studenten in der Kassenschlange bitte einfach Fanta bestellen wollt! Seid überhaupt mal leise, wenn Erwachsene sich unterhalten und ich mitzuschreiben versuche!
Der mit der Brille nimmt diese jetzt ab und sieht dadurch aus wie ein in Ehren gealterter Preisboxer, nur ohne Preise. Genau betrachtet und belauscht ist er es, der für 90 Prozent des Wortschwalls verantwortlich zeichnet:
„… von Nordirland kommend, hat er Italien christianisiert …“
„… das lässt sich alles erforschen …“
„… als deutsches Bundesland ist es in der Tat, wann, 1920, jaja, nicht, Sachsen war übrigens einer der ersten deutschen Staaten, der braun wurde …“
“ … die NSA hat ihm das kaputtgehauen, die wollten verhindern, dass…“
Karl Marx bleibt oft nicht viel mehr übrig, als – jaja, nicht? – ganze Komplexe abzunicken und durchzuwinken. Eine ungewohnt passive Rolle, die damals dem Weltkommunismus vielleicht einen ganz anderen Verlauf verliehen hätte.
„… jetzt hat er eine Klage eingereicht bei der Bundesstaatsanwaltschaft …“ (Stimme bedeutungsvoll gesenkt, keine Chance für NSA-Lauscher wie mich) … die Franzosen … de Gaulle … Merkel hat ja immer … Mascolo beim SPIEGEL … der Kampf gegen den Terrorismus ist ja nichts anderes als eine Propagandaveranstaltung, die George Bush … jaja, nicht?“
„… es gibt einen Hubschrauberkonstrukteur, Sikorsky, Schikorsky sagen die Russen, der …“
„… der Euro wird gespalten, das ist völlig klar, und jetzt wird folgendes passieren …“
Als ob die Bücher undicht wurden
Das alles in höchstens 15 Minuten Echtzeit. Es ist so herrlich. Auch so herrlich hermeneutisch, jaja, nicht? Das Bildungsbürgerblubberkondensat eines halben Jahrhunderts wird hier ausgewrungen wie ein nicht mehr ganz frischer Lappen. So spritzfidel, so wunderbar beliebig in alle Richtungen mäandernd, als seien die Bücher in den Magazinen über uns undicht geworden und durch eine geheime Leckage-Leitung mit den beiden Denk- und Sprechapparaten verbunden, aus denen nun der stete Überfluss sprudelt.
Der Tag geht, Karl Marx auch. Brille wendet sich aufs Neue dem lachhaften SZ-Feuilleton zu. Doch es war heute wieder eine große Show. Das perfekte Geschwurbel bei maximaler Souveränität und Selbstbezogenheit dieses Pärchens macht aus „Marx“ und „Brille“ etwas, das noch weit über Bildungsbürger hinausgeht. Ich würde so weit gehen zu sagen: Es sind Bürgungsbilder.
Jaja, nicht?