Wenn die Weichen auf Krieg statt Diplomatie gestellt sind, kann im System der „gegenseitigen garantierten Vernichtung“ der kleinste Fehler den atomaren Holocaust auslösen. Vor 40 Jahren war es schon einmal um ein Haar so weit – wäre da nicht ein unwahrscheinlicher Held gewesen. Doch eine Wiederholung dieses Wunders scheint ausgeschlossen.

Grobkörniges Zeitdokument: Stanislaw Petrow als Sowjetsoldat 1982, ein Jahr vor seiner Heldentat (Foto: privat)

Was haben Sie eigentlich in der Nacht vom 25. auf den 26. September 1983 gemacht, während die große Uhr im Erlöserturm des Kreml Mitternacht schlug? Ich frage natürlich nur für den Fall, dass Sie nicht „Pudding im Schaufenster“ waren, wie zum Zeitpunkt X noch nicht Gezeugte bei mir daheim merkwürdigerweise heißen. Wenn Sie also damals bereits auf Erden weilten, haben Sie wahrscheinlich im Bett gelegen und geschlafen. Schließlich mussten Sie beim Weckerklingeln am Montagmorgen fit sein für die neue Arbeitswoche, die Schule oder den Kindergarten. Vielleicht haben Sie auch gerade erst die Zähne geputzt. Moskau ist uns zeitlich immer ein wenig voraus.

Ich jedenfalls werde mit Träumen, Einschlafen oder den Vorbereitungen dazu beschäftigt gewesen sein. Ich war 17 Jahre alt und hatte keine Freundin. Was ich hatte, waren ein Zimmer im Elternhaus und Pickel, das Leben war ereignislos und drehte sich um die gymnasiale Oberstufe, Musik, Kumpels und ein allgemeines Unverständnis gegenüber der Welt.

Mit letzterem Punkt lag ich damals gar nicht so falsch, wie ich heute weiß. Denn vor allem hatte ich keine Ahnung. Das Glück, jene Nacht überlebt zu haben, teile ich mit nahezu allen von Ihnen, die damals schon geboren waren. Aber erst heute, 40 Jahre später, ist mir klar, was für ein gewaltiges Wunder das ist.

Der Mann, dem wir Älteren dieses Wunder verdanken, ist im Mai 2017 gestorben, was aber erst Monate später allgemein bekannt wurde. Den allermeisten von uns wird sein Name nichts sagen, geschweige denn, dass wir ihm je begegnet wären. Er hieß Stanislaw Jewgrafowitsch Petrow, er war am fraglichen Tag 44 Jahre alt, und er war ein Oberstleutnant der sowjetischen Streitkräfte.

Mit diesem Rang unterhalb der Generalitätsebene bekleidete der Stabsoffizier eine strategische Position, und zwar beim noch recht neuen satellitengestützten Frühwarnsystem der UdSSR gegenüber Atomwaffen-Angriffen durch die USA. Stationiert war er in einer Bunkeranlage namens Serputschow-15 nahe Moskau, wo sich die Kommandozentrale für die Frühwarnsatelliten des „Oko“-Netzes befand, das russische Wort für „Auge“. Petrows Aufgabe war es, im Falle eines automatischen Angriffsalarms durch einen der Oko-Satelliten die Echtheit der Meldung final zu verifizieren und dann seine Vorgesetzten zu benachrichtigen. Die würden daraufhin den unvermeidlichen sowjetischen Gegenschlag ausösen – den zweiten Akt des Dritten Weltkriegs.

In jener Nacht hätte Petrow gar nicht Dienst gehabt, aber er sprang kurzfristig für einen erkrankten Kollegen ein. Die Stimmung vor den Kontrollmonitoren war angespannt konzentriert, denn ganz ähnlich wie heute befanden sich Washington und Moskau auf einem neuen Höhepunkt des Kalten Krieges. Beide Supermächte hatten in den vergangenen Jahren versucht, durch militärische Interventionen in Mittelamerika beziehungsweise Afghanistan ihre Einflusszonen zu stärken. US-Präsident Reagan hatte die Sowjetunion als „Evil Empire“ gebrandmarkt. Gegen moderne sowjetische Atomraketen vom Typ SS-20 war von der Nato die Aufstellung von Pershing-II-Raketen in Westeuropa beschlossen worden, ebenso die „Strategic Defense Initiative“ (SDI) für einen Atomraketen-Abwehrschild im Weltall.

Und erst Anfang September 1983, gut drei Wochen vor Petrows außerplanmäßigem Dienstantritt, hatte ein MiG-Abfangjäger den Korean-Airlines-Flug 007 über internationalen Gewässern abgeschossen, einen zivilen Jumbo-Jet mit 269 Menschen an Bord. Der Pilot hatte versehentlich sowjetischen Luftraum verletzt. Man rechnete jederzeit mit einem feindlichen Eindringen auf eigenes Gebiet. Gab es irgendjemanden in den Betonbunkern von Serputschow-15, der nicht glaubte, dass die USA zu einem überraschenden nuklearen Erstschlag aufgelegt sein könnten? Um 00:15 Uhr Moskauer Zeit geschah etwas, das diese Frage klären würde.

Umstrittenes Dokudrama: Petrov-Filmplakat „Der Mann, der die Welt rettete“ (2014)

Ein durchdringender Alarmton signalisierte in jener Minute des 26. September, dass eine US-Atomrakete aus ihrem Silo im mittleren Westen der Vereinigten Staaten mit Kurs Sowjetunion aufgestiegen war. Der Oko-Satellit über der Region hatte die typische „Hitzesignatur“ eines Raketenstarts registriert. In das computergestützte Analysesystem waren 30 Stufen der automatischen Verifizierung dieser Meldung eingebaut. Und dennoch hatte es angeschlagen – folglich mit der höchsten Stufe von Zuverlässigkeit.

Soldaten sind dazu gedrillt, in solch einer Lage extremer Stressbelastung wie Roboter dem eingeübten Protokoll zu folgen. Dies sah vor, die Funktionsfähigkeit der Satelliten und Computer noch einmal überprüfen zu lassen. Petrow beauftragte seine Spezialisten, anhand von ausgedruckten Code-Seiten die Algorithmen zu kontrollieren. Dann fragte er beim Spezialisten für „visuelle Auswertung“ nach: Siehst du etwas auf dem Monitor mit den Live-Satellitenbildern? Ist da ein verräterischer Kondensstreifen irgendwo über den USA?

Doch der Spezialist sah nichts. Heißt das, da ist nichts? Nein, das heißt, dass ich nichts sehe! Aber kannst du es aussschließen? Nein, kann ich nicht. Ich sehe nur nichts. Die Sichtverhältnisse in den hohen Schichten der Atmosphäre sind trügerisch.

Eine US-Atomrakete benötigte von ihrem Silo weniger als 15 Minuten, um das Gebiet der UdSSR zu erreichen. Der Sekundenzeiger tickte. Petrow musste Meldung machen: Angriff oder nicht? Er griff zum Hörer des roten Telefons und meldete: Fehlalarm. Kein Angriff. Denn er hatte dem als störungsanfällig bekannten Satellitensystem immer schon misstraut und außerdem in der Ausbildung gelernt: Wenn die USA angriffen, dann würde dieser Angriff massiv sein, mit Hunderten Raketen gleichzeitig. Nur so war sichergestellt, dass trotz erwartbaren Gegenschlags die gesamte feindliche Infrastruktur zerstört wurde. Eine einzelne Rakete ergab keinen Sinn.

Petrows Negativ-Meldung zeigt zumindest der Film „Der Mann, der die Welt rettete“, ein sogenanntes Doku-Drama des dänischen Regisseurs Peter Anthony aus dem Jahr 2014. Anthony setzt die Situation des Jahres 1983 mit Hilfe von Schauspielern ins Bild, während in der Retrospektive der echte, um ein Vierteljahrhundert gealterte Petrow zu sehen und zu hören ist. Doch der Dokumentarcharakter dieses Films wird von manchen Kritikern angezweifelt. Sie halten auch die allzu perfekt inszenierten Bilder dieses angeblich dokumentarischen Teils für „scripted reality“, also eine fabrizierte Realität, in der Petrow nur den Anweisungen und Dialogzeilen des Drehbuchs folgt.

Seine Geldnot im post-sowjetischen Russland habe den Soldaten im Ruhestand dazu gebracht, seine Seele den Filmemachern zu verkaufen, heißt es. Im Internet finden sich sogar Verdächtigungen, Russland habe den aufwändig produzierten Film insgeheim co-finanziert, um ein Propagandabild heldenhafter Friedfertigkeit zu verbereiten. Dass Petrow wegen der singulären Raketenwarnung überhaupt eine Meldung machte, wird ebenfalls von manchen bestritten. Es kann ebensogut sein, dass er einfach gar nichts tat. Vielleicht kam er auch nicht dazu.

Denn schon zwei Minuten später brach im Kommandobunker nahe Moskau erst richtig die Hölle los. Im Minutentakt meldete das „Oko“-Satellitensytem zwischen 00:17 und 00:20 Uhr vier weitere Raketenstarts in den USA –jeweils wieder mit der höchsten „Verifizierungsstufe“. Es waren nun also vermeintlich insgesamt fünf nukleare Interkontinentalraketen vom Typ „Minuteman“ mit Mehrfachsprengköpfen im Anflug. Das deckt sich mit den meisten anderen Berichten aus jener Nacht.

Anthonys „Dokumentarfilm“ zeigt an einer Stelle den Besuch des etwa 70-jährigen Rentners Petrow in den USA, wo ihm für seine historische Heldenhaftigkeit ein Preis verliehen werden soll. Während dieser Tour besucht er auch den einzigen für die Öffentlichkeit zugänglichen Minuteman-Silo und nimmt die modernste Version der feindlichen Abschreckungswaffe zum ersten Mal selbst in Augenschein.

Nach dem Start würde sie innerhalb kürzester Zeit auf 24.000 km/h beschleunigen und auf ihre maximal 8.500 Kilometer lange Reise gehen, erklärt ihm ein US-Wachsoldat, um hinzuzufügen: „Ich werde oft gefragt, wie hoch die Sprengkraft der Minuteman im Vergleich zu Hiroshima ist. Aber in meinen Augen lässt sie sich damit gar nicht vergleichen. Ein besserer Vergleich wäre derjenige mit der gesamten Sprengkraft aller im Zweiten Weltkrieg explodierten Bomben. Dann haben Sie 60 Prozent dessen, was eine Minuteman-Rakete bewirkt.“ Die USA hatten zum Zeitpunkt der Dreharbeiten, um 2010, allein von diesem Waffensystem rund 500 Stück auf Lager.

Auf die Frage des Soldaten an seinen prominenten Besucher aus Russland, ob er glaube, dass Atomraketen eines Tages eingesetzt würden, antwortet Petrow im Film: „Ja, das glaube ich. Es ist absurd. Die Geschichte hat uns nichts gelehrt. Wir stehen immer noch auf verschiedenen Seiten derselben Barrikade.“

Gescriptete Realität? Der gealterte Petrow als er selbst in „Der Mann, der die Welt rettete“

Im Bunker auf seiner Seite dieser Barrikade hat Petrow am frühen Morgen des 26. September 1983 nun fünf anfliegende Minuteman-Raketen auf dem Schirm. Aber der Experte für Bildaufklärung sieht immer noch keine davon auf seinem Monitor. Die Alarmsirene dröhnt unablässig, rote Warnleuchten flackern. Die Minuten verrinnen. Was geht in Petrows Kopf vor? Vor seinem inneren Auge sieht er dem Film zufolge ballistische Raketen starten und beschleunigen: „Wenn ich jetzt den Angriff bestätige, werden eine Menge Menschen sterben. Alle unsere Streitkräfte werden in Gefechtsbereitschaft versetzt werden, darunter Atomraketen mit mehr als 11.000 Sprengköpfen. Die Armeezentrale muss dann nur noch ein paar Knöpfe drücken. Niemand wird es wagen, meiner Einschätzung zu widersprechen. Es ist für alle einfacher, ihr zuzustimmen. Und ich bin der einzige Verantwortliche.“

Man stelle sich das vor: Da hat ein perfekt gedrillter Angehöriger des Sowjetsystems soeben erst den vermeintlichen Start des Dritten Weltkriegs durch die USA zum Computerfehler erklärt, eine immens mutige Gewissensentscheidung angesichts der möglichen Folgen. Und nur Minuten später sieht er sich jetzt einer zweiten Angriffswelle gegenüber, jetzt viermal so stark. Wer bringt in dieser Situation die Stärke auf, noch einmal auf technisches Versagen zu plädieren? Petrow gibt den Befehl aus, auf eine Bestätigung des Angriffs durch das sowjetische Bodenradar zu warten. Das Problem: Dann sind es nur noch Sekunden, bis die Sprengköpfe über den Großstädten des Riesenreichs explodieren.

„Wenn ich falsch liege“, denkt Petrow damals laut seiner eigenen Erinnerung in Anthonys Film, „werden Millionen Menschen sterben. Vielleicht sollte ich meine Entscheidung ändern und dem Protokoll folgen. Ja, das könnte ich tun. Aber ich will nicht der Auslöser des Dritten Weltkriegs sein! Wenn sie uns wirklich angreifen, will ich diese Sünde auf meine Kappe nehmen. Ich ändere meine Entscheidung nicht.“ Millionen Leben hängen in diesen Sekunden am seidenen Faden. „Und niemand von ihnen hat die geringste Ahnung davon“, sagt sich Petrow. „Dieser Gedanke ging mir nicht aus dem Kopf. “

Einer dieser Menschen bin ich, der damals 17-jährige Autor dieses Artikels. Ich schlafe.

Wenige Minuten später: Nun muss das Bodenradar die Signale auffangen. Dann die Meldung: Da ist nichts. Es gibt keine Raketen im Anflug. Petrow hat richtig gelegen damit, bis zuletzt abzuwarten. Im Film fallen sich die Männer im Bunker um den Hals. Und der diensthabende Oberstleutnant bricht in Tränen aus. Der 17-Jährige in Deutschland wälzt sich in unruhigen Träumen in seinem Bett.

Die Ursachen des technischen Versagens wurden vom Militär der Sowjetunion unter strengster Geheimhaltung wieder und wieder untersucht. Bis heute bleiben die Befunde uneindeutig. In einer Quelle heißt es, eine seltene Spiegelung des Sonnenlichts in hohen Wolkenschichten über North Dakota im Zusammenspiel mit der hochgradig elliptischen Umlaufbahn des sowjetischen Aufklärungssatelliten habe den falschen Alarm ausgelöst. Petrow selbst behauptet im Film, der Grund sei nie gefunden worden.

Anders als der vielfache Drohnenmord-Auftraggeber Barack Obama hat Stanislaw Jewgrafowitsch Petrow nie den Friedensnobelpreis erhalten. Von der eigenen Generalität wurde er sogar gerügt, weil er während der Atomkrise sein Berichtsheft nicht lückenlos geführt hatte. Seine Heldentat wurde noch fast zehn Jahre lang geheimgehalten und kam der Weltöffentlichkeit erst nach dem Ende der Sowjetunion zu Bewusstsein. Vielleicht sollten sich unsere grünen, woken und sonstigen Kriegsfreunde daran erinnern, sofern sie alt genug sind: Die Rettung auch ihrer Leben vor der „gegenseitig garantierten Vernichtung“ von mindestens 400 Millionen Menschen verdanken sie einem Russen. Im „Dokumentarfilm“ von 2014 wird dieser Mann im vorgerückten Alter als versoffenes, verwahrlostes und von vulgären Wutausbrüchen entstelltes Wrack gezeichnet. Als es darauf ankam, war er alles andere als das.

Wir müssen davon ausgehen, dass mit seiner besonnenen Reaktion im Jahr 1983 das Glück der Menschheit aufgebraucht war, durch menschliche Intuition und Mut im Angesicht scheinbar überwältigender Gegenbeweise den atomaren Weltkrieg noch zu verhindern. Eine zutiefst menschliche Entscheidung wie diejenige Petrows dürfte sich nicht mehr wiederholen, auch nicht in der vergleichbaren Stresssituation eines eskalierenden Ukraine-Kriegs. Die Militärs der modernen Großmächte verfügen heute nicht nur über „Hyperschallraketen“, die kaum noch eine Reaktionszeit übriglassen, sondern auch über Sicherheitssysteme, die mit Künstlicher Intelligenz ausgestattet sind. Und eine KI kennt weder Intuition noch Gewissen.


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