Du darfst von den Menschen vieles erhoffen. Dass sie dir Anlagetipps geben, dass Sie dir das Wetter oder deine Sterne vorhersagen, dass sie dich mit dem Neuesten aus der Nachbarschaft versorgen oder mit frischen Äpfeln aus dem eigenen Garten. Nur eines darfst du von ihnen nicht verlangen: dass sie dir den Weg beschreiben. Beziehungsweise ihn dir so beschreiben, dass du daraufhin dann auch ans gewünschte Ziel findest, wenn gerade kein Navi zur Hand ist. Denn das kann niemand. Wiederhole: niemand.
Es übersteigt nicht nur jedes menschliche Kommunikaktionsvermögen, sondern schon allein die Fähigkeit des Gehirns, eine konkrete Geomorphologie in abstrakte Vektoren und diese wiederum in korrekte Richtungsanweiseungen zu übertragen.
Das Problem beginnt damit, dass der Mensch sich normalerweise in zwei Dimensionen bewegt, was seinen (Entscheidungs-)Horizont ständig unschön durch Bäume, Berge oder Laternenpfähle begrenzt. Die einzig hilfreiche Perspektive zur Navigation an entfernte Ziele und um Hindernisse herum wäre die dreidimensionale Vogelschau, die unser Gehirn indes nicht realistisch erzeugen kann.
Aber damit endet es eben noch lange nicht. Zum Beispiel folgen auch Einheimische einfach nur ihrer Nase bzw. uralter Gewohnheit, machen sich also grundsätzlich gar keine Gedanken über unverwechselbare Wegmarken, Straßennamen oder gar Entfernungen. „Fünf Minuten“ kann daher von der Fahrstrecke eines Lamborghini zwischen zwei Boxenstopps bis zum übernächsten Maulwurfstunnelausgang alles bedeuten und ist niemals, wirklich niemals eine brauchbare Entfernungsangabe.
Sagen wir, du bist Norddeutscher (also aus einer eher ein- als zweidimensionalen Welt!) auf Urlaub im ländlichen Österreich, natürlich ohne Ortskenntnis. Den theoretischen Vorteil dieser Situation – dass Du die Landessprache verstehst – vergessen wir mal gleich wieder. Er mag zwar bestehen, so du und der sprechende Wegweiser euch auf einen dem Hochdeutschen oder euren jeweiligen Dialekten ähnelnden Verständändigungsmodus einigen könnt, aber damit ist rein gar nichts gewonnen.
Denn wie gestaltet sich solch ein Dialog?
Du (im Bemühen um Sympathiepunkte das lokale Brauchtum imitierend): „Grüß Gott!“
Österreicher: Grunzt etwas, verhält sich ansonsten abwartend. Ist jener dort ein Flüchtling?
Du: „Entschuldigen Sie, können Sie mir sagen, wie ich zum Gasthaus Knödl-Wirt komme? Es soll hier ganz in der Nähe sein.“
Ö. grunzt noch mehr Unverständliches. Das Stichwort „Knödl“ hat allerdings das Eis gebrochen. Folgt dreiminütige, diplomatisch-tastende, gegenseitige Anpassung des Idioms, bis beide Seiten sich gegenseitig zu verstehen glauben, was natürlich dennoch nicht stimmt, hier aber aus Zeitgründen nicht weiter ausgeführt wird. Stattdessen wird ab hier alles im ungefähr Hochdeutschen dargestellt. Ö. also: „Das ist ganz einfach.“
Du: „Ja? Schön!“
Ö.: „Da fahren Sie erst …“
Du: „Ich bin zu Fuß, ich wandere.“
Ö.: „Ja, wo haben Sie denn Ihr Auto stehen?“
Du: „Ähm, ich bin gleich von der Pension aus losgewandert und …“
Ö.: „Also, haben’s jetzt gar kein Auto dabei?“
Du: „Wie gesagt …“
Ö.: „Ja, da können’s natürlich nicht die Schnellstraße nehmen.“
Du: „Ich möchte ja auch gar nicht …“
Ö.: „Ist das der Hiagl-Bauer, die Pension?“
Du: „Dollhopf, die heißt Dollhopf. Etwa 20 Minuten von hier.“
Ö.: „Ach, der Dollhopf Alois! Ja, von da ist’s natürlich einfach, wenn Sie ganz entgegegenherum laufen!“
Du: „Mag sein, aber ich bin ja jetzt nicht beim Dollhopf Alois, sondern hier, und von hier muss es doch auch möglich sein, zum Knödl-Wirt zu kommen?“
Ö.: „Ja, wenn Sie das Auto dahätt’n, könnten’s die Schnellstraße nehmen.“
Du: Grunzt etwas.
Ö.: „Oder Sie gehen über St. Magdalen, dann den Fuchsbichlweg bis ganz hinten durch, lassen den Ziegelteich links liegen, dann rechts halten, bis links die Kleingartenanlage kommt, zweite links, aber dann nicht am St. Ruprecht der Straße folgen, sondern bis zum Sportplatz, da ist so ein Tor, das aber von einer Hecke überwuchert ist, durch die aber so ein kleiner Trampelweg führt, und wenn Sie dann über den kleineren der beiden Gräben, also das geht mit einem großen Schritt ganz leicht, das machen meine Milchviecher auch immer, und Sie sind ja noch jung und fesch, jedenfalls kommt dann gleich der Marienpilgerweg, dem Sie etwa zehn Minuten folgen, aber sagen Sie: Der Dollhopf Alois, hatte der nicht Krebs?“
Du: „Hodenkrebs, ja, schlimm. Also jetzt nur nochmal zur Sicherheit: Über St. Magdalen, den Fuchsweg links liegenlassen, und dann?“
Ö.: „Nein, rechts.“
Du: „Wo jetzt?“
Ö.: „Da hinten!“ (Zeigt unbestimmt in drei Himmelsrichtungen.)
Du: „Ach so. Äh. Aber schon mehr so links halten, ja?“
Ö.: „Sie kennen sich hier aber gar nicht aus, oder?“
Du: „Bedaure, ich bin aus Hamburg-Bergedorf.“
Ö.: „Ja, dann müssen’s die Bergdörfer doch kennen!“
Du: „Jedenfalls verstehe ich Sie richtig, dass es ungefähr hinter diesem Gipfel liegt, ja? Da kann ich ja dann noch mal fragen.“
Ö.: „Das ist kein Gipfel, das ist ein Kogel. Gipfel hat der Großglockner. Hier gibt’s nur Nockberge. Wie bei Ihnen in Bergedorf.“
Du: „Ach was! Aber mehr so links?“
Ö.: „Das seh’n Sie dann schon! Ist ja ganz einfach!“
Du: „Und – wie weit?“
Ö.: „Ach, keine fünf Minuten mit’m Auto. Also wenn’s jetzt nicht so a studentischen Golf von 1972 haben.“
Du: „Nein, habe ich nicht. Ich bin ja mehr so zu Fuß unterwegs.“
Ö.: „Wie, ganz von Hamburg-Bergedorf?“
Du (nur noch hinfort wollend): „Moin, moin! Und danke auch für die Auskunft!“
Ö. (versonnen hinterdrein schauend, zu sich selbst): „Hodenkrebs. Schrecklich.“
Das Ganze gibt es auch andersherum: \“Gib niemals eine Wegbeschreibung!\“ Wie oft habe ich schon einfachste Wegbeschreibungen gegeben wie: \“Ja, gleich da vorne, die zweite Straße links…\“ Und dann (der Wegsuchende war gerade davongeprescht) dieses doofe Gefühl, wenn einem einfällt: Ach nein, da zweigt ja auch noch die Soundsostraße zwischendurch ab. Der Arme! Jetzt landet der vielleicht gar nicht an seinem Ziel. Ohje, da muss ich aber schnell hinterherrennen und das korrigieren. Er würde sich ja sonst sein ganzes (!) Leben über mich ärgern, wo ich auch noch so überzeugt und selbstsicher klang… Dann, wieder am Boden der Tatsachen: Das ist ein Touri, der hat es nicht eilig – und der kann auch gut noch zwei oder drei Mal fragen – und vielleicht wird er sogar davon ausgehen, dass er mir einfach nicht aufmerksam genug zugehört hat. So kann ich diesem Hinterherrennimpuls dann doch immer widerstehen.
Amüsant finde ich, dass ich vorzugsweise auch dort nach dem Weg gefragt werde, wo ich gar nicht zuhause bin…