Der große Corona-Protest von Berlin ist vorbei. Aber etwas fängt gerade erst an: Unter der Siegessäule war ein Aufbruch spürbar, wo seit vielen Jahren nur Angststarre und Vereinzelung herrschten. Dieser Aufbruch zeigte sich nicht an den Rändern der Demonstration, sondern in ihrer bürgerlichen Mitte. Und er könnte das ganze Land verändern.
Gehen wir diesen Bericht einmal so an, wie es die Mainstream-Medien mit einer Demonstration von Black Lifes Matter oder Irgendwer Gegen Rechts tun würden: mit Blindheit für alles, was nicht ins Bild passt.
Blenden wir einfach konsequent aus, was an den Rändern des großen Coronamaßnahmen-Protests hässlich war. Die „Reichsbürger“, die – bestellt oder aus purer Blödheit – vor der russischen Botschaft und später am Reichstag randalierten. Blenden wir sie aus.
Die Zahlenmystiker, die fleißig eng bedruckte Flugblätter verteilten, aus denen sich zwingend ergab, dass schon der Prophet Habakuk die Wiederwahl von Trump 2020 geweissagt hat und wir alle nur Nullen in der Matrix Gottes sind. Wenden wir uns pietätvoll ab.
Und natürlich Attila Hildmann, den veganen Koch des gefundenen Fressens für alle Masken- und Autoritätsfetischisten, der wieder mal wegen irgendwas im Schwitzkasten von Berliner Polizisten publicityträchtig abtransportiert wurde, leider nicht für immer. Schließen wir fest die Augen davor.
Blenden wir all das aus. Was bleibt dann noch von #B2908? Es bleibt die Mitte. Nicht nur die Geschmacksgeber dieser Demonstration, sondern ihr Brot und ihre Butter. All die kleinen und manche etwas größeren Leute aus Deutschlands vielen Provinzen, die sich selbst vielleicht noch vor Jahr und Tag als „unpolitisch“ gesehen hätten.
Für die Teilnehmer, die aus Kommunen wie Bocholt oder Villingen-Schwennigen oder irgendwo im Kreis Gütersloh angereist waren und stolz ihre selbstgebastelten Ortsschilder hochhielten, um ihre lokalpatriotischen Duftmarken zu setzen, war diese Demonstration das, was ein „Happening“ für die Achtundsechziger war: ein gemeinsamer Kraft-Ort, wo man sich fand, fühlte, vernetzte. Es war überall zu hören, das „Wo kommst du her? Ach, dann kennst du bestimmt …“, – „Also wir aus Ennepetal sind ja schon heute seit morgen um vier …“
Trotz allem waren sie noch da, und hier in Berlin durften sie es einen überwiegend sonnigen Spätsommertag lang zeigen. Nachdem sie all das überdauert hatten, das Abschieben in die politische Kälte, die große Eiszeit, die Ausgrenzung, die Diffamierungen, den Hass. Sie hatten schon geglaubt, ganz allein zu sein mit ihren politischen Ansichten, ihrer Weltanschauung, ihren Familiensorgen, ihrer Verwurzelung im Heimatboden. Keine Volkspartei mehr, die sie vertrat, trotz oder wegen aller Mäßigung. Keine Medien, die sie in ihrem politischen Wert bestätigten oder ihnen auch nur ein Mikrofon hingehalten hätten. Stattdessen verteufelt als Verlierer der Moderne, alte weiße Männer und Frauen, Ewiggestrige, Covidioten und immer wieder Nazis.
Wenn sie Amerikaner wären, dann wären sie die Menschen aus den „Flyover-States“ des mittleren Westens, die „Deplorables“, die das satte Polit- und Medien-Establisment höchstens aus 10.000 Metern Höhe wahrnimmt, als unpersönliche Cluster und Schemen dort unten in der Savanne, auf dem wöchentlichen Businesstrip von New York nach Los Angeles. Von München nach Berlin. Nun waren sie selber Berlin.
Aber sie waren nicht so dumm, wie das Establishment sie gerne hätte. Sie nahmen vieles wahr, registrierten vieles seit vielen Jahren, das sie fassungslos machte, und die Einschränkungen wegen Corona waren nur ein Bruchteil dessen. Sie waren auch intelligent und gebildet genug, sich selbstironische Pickelhauben aus Alufolie aufzusetzen, während einige von ihnen mit neu erwachter Euphorie Deutschlandfähnchen schwenkten. Dazu bedarf es Humor-Kapazitäten, die bezeugen: Hier ist ein Mensch, der noch Reserven hat. Der trotz allem noch Hoffnung in sich trägt. Der sich selbst noch fühlt.
Sie waren auch smart genug, nicht die Konfrontation zu suchen. Wie denn auch, umgeben von mächtigen Gegnern. Das hatten die Leipziger Demonstranten 1989 mit dem Mantra „Keine Gewalt!“ vorgemacht. Und falls sie es vergessen haben sollten, dann hatte ihnen gerade erst ein Ex-SED-Innensenator mit kurzfristig gültigem Demonstrationsverbot gezeigt, dass er sie gern auf dieselbe Weise wie 1989 behandelt hätte – und beinahe damit durchgekommen wäre.
Und immer folgte ein großes Hallo und Hurra. Gern auch bei der Ankunft von Busladungen voll Mitstreitern aus den Niederlanden oder Italien, ihrerseits mit Flaggenschmuck und stimmlich sehr viel geräuschintensiver als die aufs Leisesein geeichten, eher introvertierten Teutonen. Doch selbst die waren so ausgelassen, wie es nach all den Strapazen und Ängsten, all den Drangsalierungen durch Polizei und „Antifa“, durch Qualitätspresse und Politikbetrieb eben möglich war. Und im Gegensatz zu den anfangs ebenso verspotteten Achtundsechzigern vor über einem halben Jahrhundert, ohne einen einzigen Intellektuellen, der ihnen beigesprungen wäre.
Nur mit solch maximalen Gesten des Still- und Liebseins war es diesen Zehntausenden gestattet, gegen den Willen aller Regierenden und Meinungsmacher weiterzumachen. Denn jede andere Aktion wäre von jenen als bedrohlich, radikal, „rechts“ interpretiert worden, und es juckte sie zweifellos heftig, endlich einen Grund dafür zu haben.
Hatten nicht die Zeitungen im Vorfeld fast unisono berichtet, was für ein zwielichtiger, verführter und staatsgefährdender Haufen sie seien, unwillig zur Abgrenzung von radikalen Rechten und anderen Terroristen?
Hatten nicht Linksextreme Protestaktionen gegen die unwillkommenen Berlin-Besucher angekündigt, die umgehend genehmigt und nicht von Corona-Verboten bedroht worden waren?
Und brachten nicht die viertausend versammelten Polizeikräfte auf höhere Weisung ihren Demonstrationszug in engen Straßen zum Stocken, um nach dem so verursachten Anstauen damit beginnen zu können, wegen „Nichteinhaltung des Mindestabstands“ sogar ältere Damen aus dem Zug zu zerren und abzuführen?
Selbst, ob die Abschlusskundgebung an der Siegessäule würde stattfinden können, stand lange Zeit Spitz auf Knopf. Immer wieder musste hinter den Kulissen mit der Polizeiführung verhandelt werden, ob trotz anschwellender Menge noch genügend Corona-Abstand gewahrt wurde. Einmal kam sogar ein junger Polizeisprecher auf die Bühne und verhaspelte sich zu der bezeichnenden Ansage: „Wir möchten euch hiermit herzlich … auffordern …“
Eine „herzliche Bitte“ zu äußern, das wäre wohl doch ein unpassender Zungenschlag, fiel ihm offenbar noch rechtzeitig ein. Schließlich machte die Berliner Polizeichefin erheblichen Druck, dem Mob nicht auch noch Zucker zu geben. Und so schob der junge Polizist schnell nach, im Falle der Nichtbefolgung des Abstandsgebots erfolge als nächstes die „Weisung“, Platz zu schaffen. Und dann die Räumung.
Da wäre es Wahnsinn gewesen, die Staatsmacht provozieren zu wollen. Stattdessen wurde sie umarmt. Umarmt bis an die Grenze des dem Selbstwertgefühl noch Erträglichen. „Wir danken der Berliner Polizei, mit der wir schon im Vorfeld auf allen Ebenen intensiv zusammengearbeitet haben, dass sie uns heute hier beschützt!“ – Großer Applaus der im Schatten der Gold-Else versammelten Beschützten, die dann tatsächlich ihre Kundgebung beginnen durften: mit einer Schweigeminute für den Weltfrieden, dabei kollektiv die Hand aufs Herz legend.
Und so standen sie da, tief gestaffelt mit amtlichem Abstand auf der Straße des 17. Juni, der Altonaer Straße, dem Spreeweg und den anderen Magistralen, die auf den Großen Stern zulaufen, mit der Hand auf dem Puls andächtig dem eigenen Herzschlag lauschend, mucksmäuschenstill. Mitten in der Hauptstadt Berlin, am Brennpunkt des Tages, unter den Augen der Weltpresse, war dies eine inbrünstige, fast unwirkliche Schweigeminute. Wäre im Roten Rathaus eine Stecknadel gefallen, man hätte es hier gehört. Hätte im Tiergarten ein Vöglein gezwitschert, es hätte Schockwellen ausgelöst.
Man konnte also durchaus den Fehler machen, diese so mild auftretenden Wutbürger für wehrlose Mahatma-Ghandi-Jünger zu halten. Und offenbar verdanken einige Vertreter des politischen Berlins ihr laut zur Schau gestelltes Mütchen gegenüber der ständig wachsenden Zahl von „Querdenkern“ genau dieser Fehleinschätzung. Andererseits: Eine der in ihrer Sponanität oft dilettantisch wirkenden Parolen, die auf handgemalten Pappschildern oder am Wegesrand auf „Friedensfahrzeugen“ der Aktivisten zu finden waren, lautete: „Unterschätzt uns ruhig! Das wird lustig.“
Sie haben ja dazugelernt, und das sehr schnell. Nicht nur hatten die Corona-Protestierer eine eindrucksvolle und kostspielige technische Infrastruktur rund um die Siegessäule installieren können, mit Großbildleinwänden, leistungsstarken Boxentürmen, die Masse spiegelnden Livebildern aus der Vogelperspektive dank eines riesigen Teleskopkrans. Damit wären selbst zweihundert- oder dreihunderttausend Teilnehmer problemlos versorgt woren.
Auch personell und strukturell haben die Veranstalter von „Querdenken“ aufgerüstet. Es gibt nun eine Gruppe von mehreren Dutzend Anwälten, die bei Bedarf vor Ort sofort gegen Demonstrationsverbote oder Polizeiwillkür zu Felde ziehen. Es gibt Ärzte und Wissenschaftler, die mit Zahlen und Studien Argumentationshilfen liefern. Es hat sich angeblich gar eine Gruppe von Verbindungsleuten aus dem Polizeiapparat gebildet, die berichtet, was dort gerade debattiert wird oder in welche Richtungen der politische Trend bei der Exekutive gerade ausschlägt.
All dies sind sehr bürgerliche, aber dennoch selbstbewusste Strategien, die von zunehmend mehr Traktion der Corona- und Regierungsskeptiker im gesellschaftlichen Umfeld zeugen. Sie gewinnen auch an internationaler Reichweite. Nicht nur berichteten noch am selben Nachmittag die Online-Ausgaben von New York Times oder dem Londoner Guardian über das Berliner Spektakel, überraschend zum Großteil sachlich und mit O-Tönen einfacher Teilnehmer.
Sogar ein echter Stargast aus Übersee konnte den Berlinern von der Bühne herab präsentiert werden: Robert Kennedy jr., der Neffe des legendären Präsidenten. Der gelernte Anwalt war eigens aus den Staaten angereist.
In seiner Heimat von Liberalen wie Repubikanern wahlweise als Antikapitalist, Impfgegner, Verschwörungstheoretiker, aber jedenfalls unberechenbares Irrlicht beargwöhnt, hatte Kennedy in Berlin unmittelbaren Star-Status. Trotz großer stimmlicher Artikulationsprobleme, Heiserkeit oder Schlimmerem, tat das Kennedy-Gen am Großen Stern von Sekunde eins an seine Wirkung.
Der Redner wusste als Political Animal natürlich, was er seinem Publikum schuldig war: Absolution und Ermutigung. „Zuhause hat man mich verdächtigt, ich wolle hier in Berlin zu fünftausend Nazis reden“, sprach der Neffe. „Buuh!“, tönte es von den Straßen zurück. „Aber ich schaue mich um und sehe das Gegenteil von Nazis, ich sehe Menschen, die sich um unsere Demokratie sorgen!“, rief er. Donnernder Applaus der Erleichterung. Man hatte ihnen so oft das Gegenteil an den Kopf geworfen, dass sie den Worten des Neffen eines leibhaftigen Präsidenten nun zu Füßen lagen.
Die kurze Rede endete, wie es geradezu zum Greifen nahelag. „Vor 57 Jahren war Berlin Frontstadt gegen den Totalitarismus, und mein Onkel sagte den berühmten Satz: Ich bin ein Berliner! Heute ist Berlin aufs Neue diese Frontstadt, und wir alle können von Neuem sagen …“
Die restlichen Worte gingen im Jubel unter wie einst der entscheidende Satz Genschers in der Prager Botschaft.
Die Kombination aus dem Ort, unter einem goldenen Sieges-Engel fast in der Mitte der Metropole, aus blauem Himmel mit weißen Wattewolken und aus einem großen Namen, der einst für Aufbruch und Yes-we-can-Attitüde stand, verfehlte ihre Wirkung nicht.
Diese junge Bewegung von Menschen aller deutschen Regionen und Herkünfte, die ihre Kraft und ihr Ziel erst zu entdecken beginnt, brauchte solche höheren Weihen wie ein gerade erst vom Siechtum Genesender den Segen des Priesters. Sie sog die Worte auf wie Honig, wie Nektar. Und sie wuchs daran innerhalb von Sekunden, nicht nur innerlich. Die Körpersprache der Demonstranten, die sich zur Ehre Kennedys von ihren Rastplätzen auf dem Pflaster erhoben hatten, drückte es aus: Nicht wenige richteten sich unwillkürlich zur ganzen Größe auf, drückten die Rücken durch und reckten das Kinn vor.
Die Bewegung, die als „Covidioten“ verspottet und für ihren Regierungs-Argwohn bereits halbamtlich als Staatsfeind geführt wird, hat mit Berlin einen Meilenstein ihres formativen Prozesses passiert. Berlin war der Ort, an dem sie den Ein-Thema-Protest hinter sich gelassen und sich zu einer allgemeinpolitischen Plattform erweitert hat.
Es war auch ein wichtiger Schritt hin zur prozessualen Nachhaltigkeit. Von den Medien wenig beachtet bis bewusst ignoriert, hat „Querdenken“ den Startschuss zu einem zweiwöchigen Polit-Camp in der Hauptstadt gegeben, von dem bis zur Stunde noch unklar ist, ob es von den Behörden erlaubt wird. Dort haben die Aktivisten nichts Geringeres vor, als Artikel 146 des Grundgesetzes beim Wort zu nehmen.
Der abschließende Artikel 146 erklärt die Gültigkeit des Grundgesetzes an dem Tag für beendet, „an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Selbstbestimmung beschlossen worden ist“. Die Teilnehmer des Querdenken-Camps wollen nun genau das tun: eine verfassunggebende Versammlung bilden und ein neues Grundlagenwerk für das Zusammenleben in diesem Staat debattieren. Eines, das dieses Zusammenleben dem alles umklammernden Parteienstaat entreißt.
Man mag das für Spinnerei halten, für Größenwahn. Aber diese Menschen aus der immer noch existierenden Mitte der Gesellschaft haben begonnen, sich wieder neu als das zu entdecken, als das bürgerliche Demokraten sich einmal gesehen haben: als die politisch vorangehende Klasse ihres Landes. Als die Triebfedern, die den Laden am Laufen halten, und nicht die Getriebenen, die sich vom Verbund der Pfründeverteiler, Spalter und Vereinzeler in die Flucht schlagen lassen.
Das Netzwerk der Privilegierten indes sammelt nun, nachdem ihm der 29. August einen eiskalten Schrecken eingejagt hat, noch einmal und erst recht seine Bataillone. An Schimpf und Schande für die Herausforderer wird es im Abwehrkampf nicht mangeln, wie der letzte Nachruf des Abends auf die ungebetenen Gäste schon ahnen ließ.
Kurz vor dem Eingang des Berliner Hauptbahnhofs, an einer Stelle, die fast alle müden Demonstranten am Abend auf dem Weg zu ihren Zügen Richtung Heimat passieren mussten, hatten die „Antifa“ oder ihr nahestehende Demagogen der linksextremen Szene eine mobile Verstärkeranlage aufgebaut. Der Mann am Mikrophon überschüttete die Heimkehrer ein letztes Mal für diesen Tag mit Nazi-Anspielungen und Häme: „Ach, da fährt das deutsche Volk wieder nach Hause!“
Es sollte überlegen klingen, so als ob da lauter Völkische unterwegs wären, die nun geschlagen und verachtet vom politischen Schlachtfeld zurückkehrten. Die übliche Überheblichkeit der moralisch Aufgeputschten schwang mit, von keinerlei Selbstzweifel getrübt.
Und doch war es nur eine einzelne, künstlich verstärkte Stimme. Am Lautsprecher zog kommentarlos eine bunte Menge vorbei, die mit ihrem Mut zum Besuch in der Höhle des Löwen lauter gesprochen hatte als mit jedem Megaphon.
Danke für diesen gelungenen Bericht.
Richtig gut…Merci
Grüße Annette Löchner