Dieser Tage hielt das Leben wieder eine öffentliche Lehrstunde im Fach Deutschsein ab. Die Lektion fand auch im Ausland viel Beachtung, dürfte dort allerdings einmal mehr unter „bizarre Bräuche fremder Völker“ verbucht werden.

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Um den Sachverhalt eingangs kurz zusammenzufassen: Eine dank reichlich Winterspeck stark verfettete Kanalratte versuchte im südhessschen Provinznest Bensheim-Auerbach, sich von unten her durch einen Gullideckel zu zwängen. Auf halbem Weg blieb sie hoffnungslos stecken. In jedem anderen Land hätte diese kurze Geschichte unweigerlich zum komplett ignorierten Verenden des Nagetiers geführt.

In Deutschland geriet sie zum herzerwärmenden Wintermärchen: Eine Truppe von nicht weniger als acht Helfern der Freiwilligen Feuerwehr sowie ein Mitarbeiter der „Berufstierrettung Rhein-Neckar“ wurden herbeialarmiert. Es gelang ihnen mit vereinten Kräften, die Ratte innerhalb von 25 Minuten zu befreien und sie der „freien Wildbahn“ – sprich: der Kanalisation – zurückzugeben. Eine GoPro-Kamera filmte alles mit, die sozialen Medien stiegen ein, „Bild“ berichtete und die Weltpresse griff die gefühlige Hysterie dankbar auf.

Denn wir Deutschen sind, wie Zeilensturm-Kenner hier schon des öfteren lesen mussten, ein Kuriosum im Völkerzoo. Warum bloß machen wir uns stets und ständig im kollektiven Gefühlsrausch zum Affen?

Natürlich deswegen:

Ist sie nicht süß? So durch und durch menschlich? Schauen ihre schwarzen Knopfäuglein uns nicht ganz mitleiderregend an? Diese kleinen Fingerchen! Und müssen nicht gerade wir als Angehörige der deutschen menschlichen Spezies uns hier – nun ja – eben menschlich erweisen? Weil wir sonst gewissenlos, finster und böse wären? Ja, ja, ja und ja! Aaaaaaw!!!

Wie bitte, Experten warnen vor der Verniedlichung von Ratten? Komm mir nicht mit Sachverstand! Was haben Experten je für uns getan? Dass die Ratte als Kulturfolger ein Verbreiter schrecklicher Krankheitserreger ist, der zum Beispiel die mittelalterliche Pest kreuz und quer durch Europa getragen und viele Millionen Todesopfer hinterlassen hat – ach was, das ist doch nur wieder so eine Verschwörungstheorie, oder?

Aber nicht mit uns! Wir haben alle unsere Alarminstinkte schon vor langer Zeit ausgeknipst. Bei uns genießen Ratten Minderheitenschutz und Knuffigkeitsbonus. In diesem Mut machenden Fall haben wir, die wir zu den guten Deutschen zählen, Solidarität gezeigt. Wir haben bewiesen, was möglich ist, wenn wir alle zusammenstehen und unsere nicht geringen technologischen und humanen Ressourcen bündeln. Hier haben wir ein Zeichen gesetzt: Wir lassen bei uns nicht zu, dass jemand als „Ratte“ diskriminiert wird!

Dank gilt vor allem der Berufstierrettung Rhein-Neckar. Die Berufstierrettung: eine unerlässlich wichtige NGO, die – sollte es noch nicht der Fall sein – für ihre vorbildliche Haltung unbedingt staatliche Fördermittel erhalten sollte. Wir in Deutschland retten nämlich bei Bedarf auch Vogelspinnen. Da kennen wir nix, da gehen wir durch Wände. Und nur ganz, ganz selten kommt die Berufstierrettung einmal nicht, wenn man sie braucht. Normalerweise ist immer ein gut ausgerüsteter Aktivist zur Stelle.

Weniger engagiert und effizient retten wir unsere eigenen Kinder, die wir eher lästig finden. Die lassen wir, wenn Kinderschänder und andere Asoziale sie in ihren Händen haben, lieber monatelang unaussprechliche Qualen erleiden. Bevor irgendwann ein Amtsgericht posthum den nächsten Fall von Versagen der Gesellschaft und der Sozialämter feststellt. Ob ich als Nachbar irgenwas bemerkt habe? Och, nö. Geht mich nix an, das Geschrei von nebenan.

Weniger engagiert und effizient retten wir unsere eigenen Kinder, die wir eher lästig finden

Wir sind ein Volk geworden, das seine Sehnsucht nach dem ultimativen Gut- und Knuddeligsein an Symbolen abarbeitet, und seien sie noch so unpassend. Ein aufs Sentimentale beschränkter Haufen von Bauchdenkern, der die Folgen seiner besinnungslosen Retter- und Rettungsbedürftigkeit nie einkalkuliert. Lieber geben wir uns stattdessen dem kurzen Rausch der Selfies und der Facebook-Likes hin. Ratten retten – erklären Sie das mal jemandem in Mumbai.

Die Knuddelratte würden wir (mit Ausnahme einiger später Punks) allerdings nie, aber auch um keinen Preis in der eigenen Wohnung aufnehmen und bis zur Rente durchfüttern. Mit der als Fotodokument viral gegangenen Rettungstat endet das persönliche Verantwortungsgefühl. Um den ekligen, langen Rattenschwanz, der hier gnädigerweise den Blicken verborgen bleibt, dürfen sich hinterher gerne andere kümmern.

Als Erinnerung bleibt uns immer das Foto. Rattilein! Hat denn niemand einen süßen Vornamen für das putzige Kerlchen? Aaaaaaw!!!