Hat Matthias Matussek, der öffentlich mit den Lügengeschichten des „Spiegel“ abrechnet, in seiner Funktion als Kulturchef des Magazins selbst die Fakten manipuliert? Ein Lehrstück aus dem Medienkrieg, der die Wahrheit zum ersten Opfer macht.

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Matthias Matussek war mal wer im deutschen Mainstream-Journalismus. Als Leiter des Spiegel-Kulturressorts durfte man ihn ruhig eine Institution nennen. Er selbst hatte ganz sicher nichts dagegen. Bis 2007 hielt sich Matussek auf dieser intern stark begehrten und umkämpften Position. Dann wurde er als Ressortchef abgesetzt. Herrschsucht und unzeitgemäß patriarchalisches Führungsverhalten sollen Gründe gewesen sein. Zu konservativ für das Blatt unter Chefredakteur Aust, lautet Matusseks eigene Deutung.

Er blieb dem „Spiegel“ aber als Autor treu, bis er Anfang 2014 zu Springer wechselte. Auch das Wirken als Kolumnist der „Welt“ endete indes nach nicht einmal zwei Jahren unfreiwillig. Auf Facebook hatte Matussek die islamistischen Pariser Terroranschläge in sarkastischem Tonfall als Anregung bezeichnet, die deutsche Asyldebatte in eine „frische Richtung“ zu bewegen, und das Posting mit einem Smiley abgeschlossen. Das Emoticon stellte sich als der Endpunkt seines Arbeitsvertrags heraus, denn Springer trennte sich von ihm.

Seither ist Matussek als freier Autor und gelegentlicher Redner ein publizistischer Exponent der „Neuen Rechten“ geworden. Dort findet er die Foren, die seinen Ansichten über Konservativismus, Katholizismus und Patriotismus Raum geben. Er tritt im Umfeld der Katholischen Kirche auf, der er angehört, aber auch in Zirkeln, die Linksliberale gerne „völkisch“ nennen. Am leidenschaftlichsten zieht er gegen die Migrationspolitik der Großen Koalition ins Feld.

Und jetzt, nach dem Relotius-Skandal, betätigt er sich als – im doppelten Sinne – ausgewiesener „Insider“, der über die Wahrheitsverächter des „Spiegel“ auspackt. Der Richter, der das moralische Strafmaß verkündet.

Architektur und Haltung (1): Spiegel-Haus, Ericusspitze, Hamburg

Gerade da möchte man ihn als Autorität anerkennen, intuitiv. Denn wer wüsste wohl besser als ein Ex-Ressortchef des inkriminierten, beim Fälschen und Lügen ertappten Blattes, wie eine Haltung dort zur Not auch gegen die Fakten durchgedrückt wurde. Und gegen Matussek, versteht sich.

Dumm ist nur: Bereits vor einem guten halben Jahr schrieb der Journalist Malte Henk in der „Zeit“ ein vernichtendes Porträt über Matussek, der als reichweitenstarker „Rechter“ längst zur persona non grata des Medien-Establishments geworden war. Damals wusste noch niemand von Relotius und seiner Spiegel-Fälscherwerkstatt.

In dem Porträt beschreibt Henk eine Episode, als er selbst Praktikant bei Spiegel-Kulturchef Matussek war und dem großen Meister einen Text über einen Punkmusiker vorlegte, für den Matussek ihn lobte. „Dann“, so Henk, „dichtete er noch einen Satz hinein – ein Zitat des Musikers: ‚Ich werde weltberühmt.‘ Ich wagte schüchternen Widerspruch: Ähm, das habe der Musiker aber nicht gesagt … Egal, entschied Matussek. ‚Er könnte es aber gesagt haben.'“

Was, wirklich? Fälscher Matussek vom „Spiegel“ wütet gegen die Fälschungen des „Spiegel“? Kann man so schizophren sein? Kann man ein solches eigenes Verhalten aus der nicht allzu fernen Vergangenheit völlig abspalten vom aufklärerischen Gestus eines Volkstribuns gegen die Relotiusse des früheren Arbeitgebers? Von dem Matussek, der bei Tichy schreibt: „Relotius‘ Märchen sind kein Argument gegen eine gut erzählte Reportage. Sie sollte nur stimmen.“ Und der seinem Ex-Magazin vorwirft, es gehe in den letzten Jahren „nicht mehr darum, Fakten zu präsentieren, sondern um Haltung“.

Was also sind die Fakten? Der Henk-Artikel, obwohl sehr lang, bringt nur an wenigen Stellen konkrete Belege für seine Kernbotschaft, Matussek sei heute ein durchgeknallter, unglaubwürdiger Spinner vom rechten Rand. Die Praktikums-Szene ist eine dieser wenigen Stellen.

Vieles andere hält sich im Rahmen klug kalkulierter Unschärfe und subtiler Andeutung: „Irre Tiraden gegen Merkel und ihre Redaktionstruppen“ … „er fuchtelt und wankt“ … „Matussek kommt aus einer Zeit, als auf den Schreibtischen der Journalisten der Whisky stand, die Frau vor allem als Sekretärin und Sexobjekt eine Rolle spielte“ … „‚Er war der Gestörte, den man sich leistete‘, sagt ein Beteiligter.“

Es ist die Art von Journalismus, bei dem die gewünschten Bilder im Kopf entstehen, aber größtenteils ungeerdet bleiben durch Belege. Kein Zitat aus den „irren Tiraden“, das ein eigenes Urteil erlauben würde. Kein unzweideutiges „Er soff im Dienst und grabschte Frauen an.“ Kein Urheber des „Gestörten“-Zitats. So geht das Spalte um Spalte.

Nicht so die Praktikums-Passage. Die entscheidende, was den Umgang mit den Fakten betrifft. Die geht ins Detail – wenn sie auch wieder nichts Überprüfbares bietet, nämlich den Namen des Punk-Musikers, den man nach seinem Zitat fragen könnte.

Wer sagt die Wahrheit? Am Ende seiner journalistischen Hinrichtung kommt Autor Henk sogar noch einmal auf die Praktikanten-Erniedrigung zurück. Seine raffinierte Abschiedspointe über Matussek, den er für das Porträt so viele Jahre später nun erneut getroffen hatte: „Und dann sagt er noch: ‚Ich werde weltberühmt.‘ Nee. Kleiner Scherz. Aber er könnte es gesagt haben.“

Da ist soeben eine Rechnung beglichen worden, fühlt man beim Lesen. Eine Revanche für die jahrelang heruntergeschluckte Kränkung des aufgezwungenen Phantasiezitats? Wo so viel Abrechnung ist, muss doch Wahrheit sein?

Oder darf man Matussek doch folgen in seinem Urteil über den „Spiegel“? Was liegt näher, als ihn selbst zu fragen – eigentlich der simpelste aller journalistischen Reflexe. Der Einfachheit halber per Facebook, wo er stets präsent scheint. Herr Matussek, ist das wahr, was Henk über Sie und den Punkmusiker schreibt?

Seine Antwort kommt innerhalb weniger Minuten: „Das ist erfunden wie viele andere Passagen auch, etwa dass ich eine hochschwangere Kollegin angebrüllt oder vor Wut ein Spiegel-Exemplar zerrissen hätte, ein echter Relotius, ein Mischmasch aus Lügen, Halbheiten und erschlichenem Vertrauen, um mich als ‚Rechten‘ zur Strecke zu bringen!“

Ausrufezeichen. Am Ende eines langen Satzes, der wirkt wie wirklich laut gerufen. Warum so atemlos? Ich weiß es nicht. Ich weiß am Ende auch nicht, wem ich glauben soll. Und wenn schon nichts anderes, dann ist dies doch zumindest ein Fazit, das Journalisten wieder viel häufiger ziehen sollten. Sollen doch die Leser entscheiden, mit ihrem eigenen Gespür für das, „was ist“.

Nur eines weiß ich: Ich will solche Medien nicht mehr. Das erste Opfer des Krieges ist die Wahrheit. Und Krieg ist, was wir mittlerweile haben. Krieg der Meinungsmacher, Krieg der Volkserzieher, Krieg der Haltungsturner, Krieg der Rechthaber, Krieg der Durchregierer. In Medien, Politik und Kultur.

Architektur und Haltung (2): Spiegel-Haus, Ericusspitze, Hamburg

Das ist das eigentlich Schlimme, die eigentliche Krise des Journalismus und der Gesellschaft im Jahr 2019: Die Logik des Krieges hat die Logik des Diskurses abgelöst. Denunziation statt Debatte, Vernichtung statt Verantwortung. Fünfzig Schattierungen von Lügen statt Ringen um Erkenntnis, die weiterhilft, um echten Fortschritt für alle.

Denn beides zugleich geht nicht, wie dieses Lehrstück einmal mehr zeigt. Sagt Matussek die Wahrheit, dann erfüllt der Text von Henk nicht nur locker den Tatbestand des Rufmords, sondern auch seinerseits der Fälschung – sogar einer Meta-Fälschung, indem er eine „Fälschung“ erfindet.

Sagt aber Henk die Wahrheit, dann ist Matussek zum dritten Mal in seiner Karriere vom Sockel gestoßen. Dieses Mal als selbsternannter Vorsitzender der journalistischen Ethikkommission. Eine größere Fallhöhe als frei erfundene Zitate wäre für einen, der genau dies seinem eigenen früheren Blatt als Glaubwürdigkeits-Todsünde ankreidet, kaum vorstellbar. Denn wer einmal lügt … etc.

Zwischen beiden Versionen bleibt keine Luft zum Atmen. Wie gesagt, es ist Krieg.

Ich bin Kriegsdienstverweigerer. Im Jahr 1985 habe ich meinen Antrag beim Kreiswehrersatzamt gestellt. Es ist nun die Zeit gekommen, auch dem Journalismus den Kriegsdienst zu verweigern.