Wie meine Elbphilharmonie-Premiere beinahe zum Skandal geworden wäre, am Ende aber fast alle lachen mussten
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In diesem selten gezeigten Saal eines selten fotografierten Hamburger Gebäudes war ich also gestern Abend dann auch zum ersten Mal:
Nein, ich bin nicht der Herr mit der Krawatte vorn links. Ich sitze unsichtbar auf einer Art Vogelstange in der – gefühlt – 92. Etage, querab von der Bühne. Es ist ein wenig wie der Blick aufs Spielfeld am Millerntor unterm Tribünendach, nur die Akustik ist deutlich besser, und die Sänger können besser singen.
Nämlich die hier: Der estnische Rundfunkchor (stehend) und die Sinfonietta Riga (überwiegend sitzend) mit Werken von Arvo Pärt. Das war großartig! Pärt, heute über 80 Jahre alt, hat ja sein ganzes Leben mit der Suche nach „der einen Note“ zugebracht. Dafür war das Klangbild erstaunlich harmonisch, vielseitig – und kristallklar. Die Akustik da oben auf den billigen Plätzen soll jedenfalls besser sein als unten in Reihe 1 vor der Bühne.
Dort, direkt vor der Bühne, hätte dem Augenschein nach eigentlich das Paar sitzen sollen, das stattdessen rechts neben uns auf der Vogelstange hocken musste. Er: dunkler Anzug, weißes Hemd, ca. 45, schätzungsweise mittleres Management bei namhaftem Hamburger Weltkonzern, stark ausgeprägter Zug nach oben. Und wo wir bei „Zug“ sind: eine Line gezogen für den Abend, tippe ich mal. Daneben sie: (s)ein Geschöpf, Abendkleid, sehr vorzeigbar, ihm aber bereits leicht entfremdet. Kein Körperkontakt. Beide: kinderlos, HafenCity-Apartment mit Elbblick, aber Termine, Termine.
Tja. Ausverkauftes Haus, zu spät um Karten gekümmert. Deshalb jetzt auf Gedeih und Verderb in Reih und Glied mit uns Plebejern. Und da geht es auch schon los, kaum zehn Minuten sind verstrichen. Die ältere Frau auf der deutlich tiefer abgestuften Vogelstange vor uns holt ihr Handy raus, um mal schnell ein paar SMS zu checken. Ihr Handydisplay leuchtet grell im feierlichen Dunkel des Großen Saals der weltberühmten Elbphilharmonie. Meinem Sitznachbarn ins Gesicht. Während Arvo Pärt nach der einen Note sucht. Um es vorwegzunehmen: Ich billige das nicht. Handyleuchten im Konzert ist nicht schön.
Die Gezauselte wirft den Kopf in den Nacken wie ein flehmendes Pferd
Aber meine Meinung tut nichts zur Sache, denn bevor ich auch nur den Gedanken fassen kann, dass das nicht schön ist, langt Mr. Middle Management schon nonverbal nach unten und trifft die SMS-Sünderin mit tadelndem Finger senkrecht von oben zwischen Schulter und Hals. Ist das die Art karriereorientierter Aufsteiger, Missbilligung gegenüber Subalternen auszudrücken? Dieser Mann hat vermutlich von Ulrike Meinhof gelernt: „Protest ist, wenn ich sage: Das und das passt mir nicht. Widerstand ist, wenn ich dafür sorge, dass das, was mir nicht passt, nicht länger geschieht.“
Doch nachdem der erste Schock über den Fliegerangriff aus der Dunkelheit verflogen ist, keilt die Handyfrau unter uns zurück: irgendwas im Sinne von „Das ist mein Platz und ich mache, was ich will!“. Akustisch verstehe ich das nicht vollständig, weil ganz unten Arvo Pärt immer noch nach seiner Note sucht. Optisch allerdings schon, da die Gezauselte den ergrauten Kopf schüttelt und in den Nacken wirft wie ein flehmendes Pferd (nur rein vom Bewegungsablauf her jetzt, bitte).
Das Erstaunliche: Weder das Geschöpf zur Rechten meines Sitznachbarn reagiert auf Aggression und Aufbäumen in erkennbarer Weise (ich vermute irgend etwas zwischen Gewöhnung und Resignation), noch tun es die Begleiter der Angezickten in der unteren Reihe. Und auch Mr. Middle Management ignoriert seine unterklassige Kontrahentin sofort wieder, sodass sich die Dinge erstaunlich schnell beruhigen. Entgegen der Ankündigung bleibt sogar das Handy dunkel. Ulrike Meinhof hat gewonnen.
Jeder Klatscher ein Bullet Point aus der letzten Quartalspräsentation
Nur bin ich jetzt offiziell für meinen Nebenmann sensibilisiert. Ich kann ihn nicht länger rechts liegenlassen. Und da fällt mir auf: Immer, wenn es zwischendurch was zu klatschen gibt, klatscht er. Gut, das machen ja mehr oder weniger alle, aber bei ihm klingt es jedesmal wie eine Ohrfeige. Ich möchte sagen: fast metallisch. Wie macht der das? Bäng-bäng-bäng-bäng! Jeder Klatscher ein Bullet Point aus der letzten Quartalspräsentation. Hochpräzise, maximal effektoptimiert, jedoch vollkommen emotionsbefreit. Letzteres noch unterstrichen dadurch, dass die Klatschsalven weder von irgendwelchem Minenspiel noch gar von einem Gedankenaustausch mit dem Geschöpf begleitet werden. Er äußert eigentlich während des ganzen Abends überhaupt nur ein einziges Wort.
Und dann kommt das Wiegenlied. Halt, nein. Erst kommt die Pause. Zwischenbilanzapplaus. Das Klatschen rechts von mir ist intensiv wie ein Maschinengewehrfeuerstoß. Kurz bin ich versucht, mir meine gerade überstandene Mittelohrentzündung zurückzuwünschen. Unsere Vogelstange ist recht eng, und es gibt nur einen schmalen Auslass am Ende der Reihe. Alle warten beim Aufblenden der Saalbeleuchtung darauf, dorthin vorzurücken. Nur einer nicht. Mr. Middle Management springt über seine Sitzlehne (es ist die letzte Reihe) umstandslos in den Gang. Und eilt, nein, stürmt in Richtung … ja, was? Toilette? Bar? Telefon-Privatsphäre? Wir sehen ihn erst wieder, bereits auf seinem Platz, als wir nach einem sehr gutem Weißwein auf unsere Vogelstange zurückkehren. Planmäßig beginnt – und verläuft – die zweite Hälfte des Abends.
Und dann kommt das Wiegenlied.
Ja, am Ende gibt es ein überraschendes, putziges, niedliches, sogar witziges estnisches Wiegenlied, gesungen vom weiblichen Teil des Rundfunkchores, mit gezupfter Streichinstrumente-Begleitung. Als schließlich auf diese Weise die letzten Klänge dieses Konzertabends in den Großen Saal der Elbphilharmonie geplinkert sind, muss man weinen oder lachen oder „Aaaawwww!“ machen oder sonst irgendeine Regung zeigen.
Tut man aber nicht, rechts von uns. Sondern man klatscht. Den Großen Schlussapplaus. Es ist Zahltag. Zeit abzurechnen. Und nichts schuldig zu bleiben. Bäng! Bäng!! Bäng!!! Bäng!!!! Woah. Das geht für mich jetzt nur noch mit Finger im rechten Ohr. Aber es bewirkt außer Angst vor Gehörschäden noch etwas. Nämlich: Das Ensemble auf der Bühne muss nochmal ran, der Dirigent noch mal rauskommen. Ich bin sicher, das hat der Klatschmacher ganz allein geschafft mit seinem metallischem Dauerfeuer der Emotionslosigkeit. Sie setzen also noch einmal an und spielen: das Wiegenlied, das estnische. Mach’s noch einmal, Sam.
Plink. Plank. Plonk. Die letzten Zupfnoten verklingen. Nein, nicht ganz die letzten. In das versterbende Tongemälde mischt sich etwas anderes: ein Handy-Klingelton. Es ist nicht die Alte in der Reihe unter uns. Es ist auch nicht – was pure poetic justice wäre – das iPhone meines Sitznachbarn. Hey, hier sind 2100 Menschen im Raum, natürlich muss heute Abend mindestens ein Handy klingeln, irgendwo versteckt in einer Tasche. So, wie auch mindestens 210 Anwesende asthmatischen Raucherhusten im Endstadium haben müssen. Normal! Warum also nicht als Schlussakkord fürs Wiegenlied?
Natürlich muss heute Abend während des Konzerts mindestens ein Handy klingeln
Jetzt gibt es zwei mögliche Reaktionen auf diese absurd entgleiste Zugabe: Gelächter – und Klatschen. Beides verteilt sich etwa gleichstark durch den Saal. Außer rechts von mir. Da ist Klatschen zum Quadrat, aber frag nicht nach Sonnenschein. Keine tadelnden Finger für das unerhörte digitale Dudeln. Kein Frohsinn ob der grotesken Pointe. Sondern ein regungsloses Klatschinferno, wie mit dem Schraubenschlüssel geprügelt. Aber dann kommt es ja erst: ein Schrei. Ein Brüllen. Ein Ausbruch. „BRAVO!!!“
Und Abgang. Mr. Middle Management hechtet über seine Rückenlehne. Eilt, stürmt den Gang entlang, bevor ihn irgendjemand verstopfen kann. Ist, mit wippendem Schopf, schon am Ausgang, und jetzt bereits außer Sicht. Hoffnungslos zurückgefallen folgt ihm eine Minute später das Geschöpf, ohne erkennbaren Ehrgeiz, schon umzingelt von anderen Abwanderern.
Ich will mal hoffen, dass es dem Gentleman nur um die Pool Position an der Garderobe ging.