Schleichend, aber unaufhaltsam gerate ich in Gefahr, meine Meinung über die Deutsche Bahn ändern zu müssen.

Ganz langsam. Vorsichtig! Nur nicht zu hastig … aber möglicherweise … meine Güte … muss ich … arrrgh: umdenken. Oha, das tut weh! Schaffe ich das denn, in meinem hohen Alter? Lassen sich langfristig gewachsene, stark verfestigte, skelettierte, ja in Granit gehauene Ansichten und Lebenserfahrungen überhaupt noch umpolen?

Irgendwann vor vielen Jahren habe ich mal einen Satz in BILD gelesen, der so unglaublich bekloppt und dabei aber irgendwie rhythmisch und fast schon poetisch war, dass er sich mir für den Rest meines Lebens wortwörtlich eingeprägt hat, der Bastard: „Mit 30 steht der Charakter fest und kann danach nur noch mit aufwändiger Psychotherapie geändert werden.“ Ich bin nun, wie ich hier schon mehrfach enthüllt habe, 50.

Aber hier sitze ich, in einem ICE der Deutschen Bahn, zweite Klasse, Großraumwagen. Draußen zieht die verschneite Tiefebene Norddeutschlands vorbei, die Morgensonne scheint darauf. Womit wir beim Thema wären, beim Reizthema.

„Bitte beurteilen Sie Ihre heutige Fahrt.“ Ja, wenn es nur die wäre! Dann könnte ich sagen: Ist halt ein Ausrutscher. Kann mal passieren. Sonne scheint, der Zug ist pünktlich, und da, wo immer nur stundenlanges Funkloch war, nämlich in halb Norddeutschland, ist plötzlich WLAN. Kostenlos, das heißt, schon klar: eingepreist in meine Fahrkarte. Aber dennoch: Das WLAN funktioniert, und ich kann mich einfach so einloggen. Ich surfe schön im Netz, wo ich sonst stumpf in der Nase bohrte, während winterliche Wiesen vorbeirasen. Lese meine Lieblingszeitung, meine Lieblingsblogs, minutenaktuell. Kann dies hier selber bloggen, kann im Netz recherchieren. Wahnsinn.

Und diesen eingeschobenen Nebensatz, diese vier Wörtchen, haben Sie das bemerkt: „Der Zug ist pünktlich“. Herrgottnochmal! Der. Zug. Ist. Pünktlich. „In Hannover werden alle vorgesehenen Anschlusszüge erreicht.“ „In Göttingen werden alle vorgesehenen Anschlusszüge erreicht“. „In Kassel-Wilhelmshöhe werden alle…“ Was geht hier vor? Was soll das? Wollen die mich fertigmachen?

Denn es ist eben nicht nur die heutige Fahrt. Das passiert mir in letzter Zeit immer öfter, das hat schon fast System. Selbst das Umsteigen an notorischen Menschen-aus-der-Bahn-werf-Orten wie Hannover Hbf oder Dortmund Hbf (8 bzw. 10 Minuten planmäßige Übergangszeit) ist schon mehrmals gelungen!

Klar, am Anfang denkt man: Red du nur, Bahn-Guy, wir wissen ja, wie es wirklich ist: 15 Minuten, 25 Minuten, 40 Minuten, mehr als 60 Minuten Verspätung. So ist das nämlich, tagein, tagaus. Wissen wir doch. Triebkopfstörung, Signalstörung, Weichenstörung, Personen im Gleis. Uns täuschst du nicht! Mein Zug ist pünktlich? Arf, arf! Alternative Facts! Paralleluniversum! Trump-Pressekonferenz!

Mein Zug ist pünktlich? Arf, arf! Alternative Facts! Paralleluniversum! Trump-Pressekonferenz!

Denn natürlich kenne ich den Ausgang all eurer „Pünktlichkeitsoffensiven“ seit Mehdorn anno 1894. All die Initiativen für mehr Fahrgastfreundlichkeit, Kundenmehrwertbullshit, Customer Experience Optimization, vom Winde verweht. Natürlich weiß ich, dass eure „Fahrgastlabore“ nix bringen, ich war ja selbst mal Insasse in so einem. Und jetzt so was? Meine Mitreisenden in der Großraum-Nachbarschaft unterhalten sich leise, höflich, helfen Koffer in Gepäckabteile wuchten. Was soll ich noch glauben?

Aber es gibt Hoffnung. Vorhin, da konnte ich das Bild zu diesem Beitrag nicht hochladen.  Und jetzt gerade, in den vielen Tunneln auf dem Weg nach Frankfurt, war das WLAN insgesamt verdammt langsam! Gleich, wenn wir wieder am Tageslicht sind, wird der Himmel sich zuziehen … es wird regnen, die Klimaanlage wird ausfallen … es werden Personen im Gleis sein …

Ich baue jetzt einfach mal darauf, dass wir bis Frankfurt doch wieder die traditionellen 25 Minuten draufsatteln, ich den großzügig bemessenen Anschluss nach Darmstadt nicht schaffe und meinen Termin bei der European Space Agency verpasse. Dass meine lebenslange, länger als Mehdorn anno 1894 zurückreichende, unverbrüchliche, masochistische Liebe zur Bahnreise auf die altbekannte Probe gestellt wird. Dass Dutzende Zeilensturm-Leser von den letzten 15, 25, 40, mehr als 60 Minuten berichten, die gerade gestern erst wieder angefallen sind.

Und ich nicht umdenken muss.

Nachtrag, 21:26 Uhr: Nix! Pünktlich in Darmstadt, pünktlich wieder zurück an der Elbe. Die Bilanz von zehn Stunden Bahnfahren an einem Wintertag. Wollen Sie mich mieten? Wenn ich dabei bin, kommen Sie planmäßig ans Ziel.

Nachtrag, 30.1.: Kaum lobe ich die Bahn, tritt Vorstandschef Rüdiger Grube zurück. Zufall?