Manchmal muss man bloß zur richtigen Zeit am richtigen Ort sein, und plötzlich hält die Welt den Atem an. Na ja, fast – bis auf die reflexhafte Anrufung einer höheren Instanz (US-Version).

Vielleicht von einer Ahnung getrieben, verließ ich gestern Nachmittag so gegen fünf das Büro, um ein wenig an der Hafenkante entlangzuschlendern. Herbstabende in Hamburg können fürchterlich trostlos sein, aber manchmal, wenn alles stimmt und zusammenkommt, gibt es so eine bestimmte Wetterlage für die große vorweihnachtliche Entschädigung. Schon als ich senkrecht auf die Landungsbrücken zugehe, blendet mich wie ein Scheinwerfer ein ungewöhnlich kontrastreicher Sonnenuntergang knapp über dem Horizont. Ich denke noch, oh, wenn ich da noch was fotografieren will, wird’s aber knapp. Und richtig: Als ich ankomme, ist die Sonne schon versunken, das vermutete Himmelsdrama nahezu vorbei. Fast auf Elbhöhe dominieren bereits verdämmernde Dunkelblau- und Grautöne den Himmel.
Doch die Luft ist kalt und klar, kein Windhauch regt sich. Ich wittere, dass es womöglich noch eine Chance gibt. Also im Eilschritt die Elbpromenade entlang zum S-Bahnhof, eine steile Treppenflucht hinauf gegen den Strom der Touristen, Haken links, Haken rechts, enger Durchgang, rempel, „Tschuldigung!“, außenrum weitere Treppenabsätze emporstürmend und rauf bis zum Stintfang. Das ist eine Art Aussichtsplattform auf einem Hügel gleich oberhalb des Bahnhofs, von der aus früher üblicherweise die Hochglanzhamburgfotos für die Cover von Merianheften geschossen wurden. Man blickt halt weit über den Uhrenturm und den Strom und die Elbtunnel-Kuppeln und die Fähren auf Docks und Hafenkräne.
Ich nehme also die letzten Stufen im Schweinsgalopp. Einer weiteren Eingebung folgend, drehe ich mich absichtlich kein einziges Mal um, bis ich angekommen bin. Immer noch gesenkten Blickes suche ich mir eine der ausladenden Mauerbrüstungen, die wie Balkone auf das Elbszenario hinausragen. Aus dem Augenwinkel nehme ich auf tiefer gelegenen Positionen links und rechts von mir erstarrte Menschen wahr, alle mit Handys oder Fotoapparaten vor dem Gesicht. Und alle so auf Netflix-Englisch: „Ooooooooh-Meeeiiiiii-Goooooaaaaaaad!!!“ Und ich denke noch, wie primitiv ist das denn bitte wieder, dieser reflexhaft antrainierte Ausdruck der Ergriffenheit von irgendwas Kitschigem, das es nicht wert ist. Höchstens noch variiert durch das urdeutsch gekreischte „Geeeeiiiiiiiiiii-elll!!!“.
Und dann schaue auch ich endlich auf. Und denke erst mal gar nichts mehr.

Tja, auch ich war dann einer dieser Menschen mit dem Handy vor dem Gesicht. Aber irgendwann hatte ich meine Aufnahme im Kasten, steckte den Kasten in die Jackentasche und stand einfach nur da und schaute und schaute. Vielleicht fünfzehn Minuten lang. Denn es ist natürlich so: Ein Foto, noch dazu per Mobiltelefon, kann dies nicht wirklich wiedergeben. Der wahre Himmel ist unendlich viel größer als jedes verfügbare Bildformat. Der wahre Himmel wechselt sekündlich seine Farben und Muster. Der wahre Himmel zwingt einen, Worte zu finden für Nuancen, die ein Phone gar nicht erst auf dem Schirm hat.
Dutzende, vielleicht Hunderte von gestaffelten Linien und Schraffuren knapp über dem Horizont, wie Lamellen einer Jalousie, jede für sich eine andere Schattierung von Feuerrot. Unsinn, Feuerrot hat keine Schattierungen, sondern nur Abstufungen von Leuchten und Lodern und Brennen. Und dieser alles überwölbende Himmel bildet Taschen und Trichter und Tröge und Strudel, die sich ununterbrochen stauchen und strecken und wabern und wogen, um sich letztlich selbst zu verzehren. Und von ganz tief unten her, schon südlich der flachen Erdscheibe, sendet dieser feuerspeiende alte Drache noch schräg ausgreifende Bündel von orangefarbener Energie, die als Fächer in das Firmament hinaufschießen, wie Lanzen all diese horizontalen Stadien des Weltenbrandes durchbohrend. Während unterhalb und an den Rändern dieser Eruption ruhige Matten von Türkis und Eisblau lagern wie ein versehentlich nicht eingerollter Teppichboden in arktischen Spätsommer-Modefarben. Das alles gespiegelt im träge dahingleitenden Quecksilber des Stroms.
Den gestrigen Abendhimmel gibt es in dieser Opulenz nur einmal im Jahr, oder alle fünf, alle zehn Jahre. Oder vielleicht war es sogar ein Once-in-a-lifetime-Event. Sie haben im Radio über diesen Sonnenuntergang gesprochen. Mehrere Leute haben mir unaufgefordert erzählt, wo sie in diesen Momenten waren und was sie sahen. Und warum? Weil es im Menschen ein ursprüngliches Sinnesorgan gibt, das aufmerkt, wenn eine höhere Macht ihm eine Botschaft sendet. Diese höhere Instanz nennen viele das Göttliche, versehen mit unterschiedlichen Namen und Geboten. Doch weit mehr finden dafür nur noch die Restfloskel „OMG“, denn den meisten von uns wurde es ausgetrieben, unserem uralten Sinnesorgan für das Über-Menschliche zu vertrauen.
Wir rechnen nicht mehr damit, dass es Kräfte oder Wesenheiten geben könnte, die uns zum Zuschauer und passiven Empfänger degradieren. Unsere Antennen für eine mehr als bloß materialistische Welt sind abgestumpft, sie empfangen meist nichts mehr. Man hat uns eingetrichtert, die „Aufklärung“ sei die ultima ratio gewesen: Wissenschaftlichkeit, Planbarkeit, rationaler Verstand, technische Machbarkeit, Unterordnung allen Lebens unter einen politischen Willen zum Engineering der Welt und des Menschen. Von dort führe kein Weg zurück, und wenn, dann nur in ein finsteres und abergläubisches Mittelalter.
Momente wie gestern Abend helfen, den berechtigten alten Zweifeln an diesem Fortschrittsfetischismus wieder Leben einzuhauchen. Denn sie schlagen die Fetischisten mit ihren eigenen Waffen: Ihr wollt Naturgesetze statt Mysterien? Bitte, hier habt ihr Naturgesetze: Die Natur lässt die Sonnen ihre gesetzmäßigen Bahnen ziehen. Bloß haben nicht wir Menschen das erfunden, und wir können nicht im Traum etwas daran ändern. Wenn die Natur (der Kosmos, das Universum, das „All“) beschließt, unseren Abendhimmel in ein göttliches Theater zu verwandeln, dann hat der Erdfunk Sendepause. Dann schweigen für einen Moment all die Besserwisser und Weltverbesserer, denn für eine himmlische Viertelstunde gibt es an der Welt nichts zu verbessern. So wie an meinem zwanzigsten Hochzeitstag im Oktober 2022, den hoch über unserem Wanderweg durch die herbstliche Pfalz eine partielle Sonnenfinsternis verzauberte.
In solchen Momenten regieren am Himmelszelt wieder die schattenspielenden Geister, die feuerspeienden Drachen und Dämonen. So, wie sie es vor tausend Jahren taten, bevor wir erst christlich und dann fortschrittlich wurden. Bevor wir zuletzt alle Demut verlernten und den Himmel um das Ego kreisen ließen. Doch der Himmel hat die Angewohnheit, sich von Zeit zu Zeit zurückzumelden.


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