Die folgenden beiden Erlebnisse haben sich nur etwa hundert Meter voneinander entfernt in meiner Straße zugetragen, in Sichtweite meines Hauses in einem zentralen Wohnviertel der Millionenstadt. Dummerweise bin ich es, der sie erlebt hat. Und noch dümmerer Weise haben sie eine erschreckene Parallele.

Es war an einem frühen und deshalb noch stillen Sonntagmorgen bei angenehmer Wetterlage. Mit zahleichen Taschen bepackt gingen C. und ich auf dem ansonsten menschenleeren Bürgersteig nebeneinander in Richtung Auto, das etwas weiter entfernt parkte. Wir hatten einen von der Ausrüstung her aufwändigen Ausflug geplant und wollten zeitig loskommen. In unserer Wohnstraße herrschte um diese Zeit keinerlei Autoverkehr, auch sonst kaum jemand unterwegs.
In Gedanken schon voraus, höre ich nur halb bewusst das Kling-Klong einer Art Fahrradklingel in meinem Rücken, nicht sehr nah. Ich denke mir nichts dabei. Dann klingelt es ein zweites Mal, diesmal schon sehr viel näher und fordernder. Als wir uns umdrehen, können wir gerade noch unsere Taschen fallen lassen und einen halben Schritt zur Seite machen. Da schleudert auf einem E-Scooter schon eine junge Frau herbei, vielleicht Ende zwanzig. Weniger als eine Armlänge entfernt kommt sie quer zu uns zum Stehen und fängt ansatzlos an, auf C. einzuteufeln. Was uns einfiele, sie nicht vorbeizulassen, sie hätte doch mehrmals geklingelt!
Bei C. ist man mit solchen Verbalattacken und körpernahen Übergriffigkeiten zuverlässig an der falschen Adresse. Sie geht in Abwehrstellung und keift zurück. Die Augen der jungen Frau flackern, ihr Redetempo droht sich zu überschlagen, vermutlich befeuert von irgend einem Substanzmissbrauch in der gerade zurückliegenden Nacht. Meine Frage, was sie eigentlich mit ihrem Vehikel auf dem Bürgersteig zu suchen habe (in Abwesenheit eines Fahrradweges müssen E-Scooter-Fahrer die Fahrbahn benutzen), geht in weiteren Beschimpfungen unter. Sie könne auch die Polizei rufen, ereifert sich die Frau lautstark, denn C. habe gedroht, sie zu verprügeln! Jawohl, zu verprügeln!
Nun ist die Situation eigentlich schon grotesk genug, doch in diesem Moment überquert zielstrebig ein Mann mit seinem angeleinten Hund die Straße, der unbemerkt von uns auf dem gegenüberliegenden Bürgersteig unterwegs war. Er ist etwa gleichalt wie die Scooter-Pilotin und kommt, Hund voraus, geradewegs auf unsere Dreiergruppe zu.
„Sie hören jetzt sofort auf!“, fordert er nicht etwa seine Altersgenossin, sondern C. lautstark auf, während sein Köter munter kläffend sowohl an ihr als auch an mir hochspringt. Dann noch irgendwas wie „Schluss mit der Gewalt!“, ganz als ob er mal ein Awareness-Training für Ordner bei linken Demos mitgemacht hätte – eine Funktion, in der ich ihn deutlich sehen kann. Das Problem ist nur, dass er nicht deeskaliert, sondern klar auf der Seite der jungen Frau einspringt. Ich bin von all dem Irrwitz kurzzeitig so benommen, dass es mir schwerfällt, den Überblick über unsere Peiniger (inklusive Hund) zu behalten.
Noch einmal versuche ich zu erfahren, was die beiden reitet, da ein E-Scooter nichts auf dem Bürgersteig zu suchen hat und es in der friedlichen Morgenstunde das Normalste auf der Welt gewesen wäre, still und leise auf der Straße an uns vorbeizusegeln. Doch vergebens. Es hagelt nur weitere, jetzt mehrstimmige Vorwürfe angesichts unseres offenbar intoleranten Verhaltens, untermalt von aggressivem Hundegebell. Während die junge Frau sich – weiterhin auf dem Bürgersteig – unter weiteren wirren „Polizei!“-Beschwörungen irgendwann aus dem Staub macht, kleben uns Herrchen und Hund immer noch an der Backe.
Inzwischen habe ich aber mein Rechtsempfinden samt Artikulationsfähigkeit halbwegs wiedergefunden und verlange von ihm zu erklären, ob er vielleicht Zivilpolizist sei oder was ihn das Ganze sonst eigentlich angehe, und warum er sich dann auch noch auf der falschen Seite einmische. Zur Antwort erhalte ich nur den unsterblichen Satz: „Ein wenig mehr Empathie würde Ihnen guttun!“ Klar, es geht ja um ein weibliches Opfer. Während ich nicht lockerlasse, quittiert der Awareness-Beauftragte meine wiederholten Nachfragen, ob er vielleicht auch ein inhaltliches Argument habe, nur noch mit einem ironischen „Ich wünsche Ihnen auch einen guten Tag!“ – dann trollt er sich samt Kläffer in einen Seitenweg. Und der Einbruch der Absurdität in mein Leben scheint vorbei.

Bis heute. Am Vormittag bin ich wieder auf demselben Bürgersteig unterwegs, nur ein paar Schritte vom ersten Tatort entfernt. Mein Blick ist auf den Boden geheftet, denn ich suche etwas und kann es nicht finden. Daher wandere ich hin und her, und bisweilen bleibe ich stehen, gehe in die Knie und schaue unter verschiedenen abgestellten Autos nach, auch unter dem eigenen. Immer noch nichts zu sehen. Ich wechsle die Straßenseite, gehe wieder von Auto zu Auto, lasse mich auf den Boden nieder, linse in Lücken und unter die Fahrzeugböden. Jedoch ohne einem einzigen Wagen sehr nahe zu kommen oder ihn gar – Göttin bewahre! – zu berühren. Ein Meter Abstand ist mindestens vorhanden.
Da höre ich eine Frauenstimme von jenseits der Straße, laut und lauernd: „Darf ich fragen, was Sie da an meinem Auto machen?“ Ich komme hoch und gehe hinüber zu ihr, vielleicht Anfang 40 und offenbar Mitarbeiterin eines Verwaltungsbüros im Parterre, dessen Eingangstür offensteht: „Wie meinen Sie das: was ich da mache?“ – „Ja, ich habe Sie nämlich beobachtet. Sie schleichen schon seit zwei Tagen um dieses Fahrzeug herum“ – sie zeigt auf meinen eigenen Wagen – „und jetzt auch um meines, und darum frage ich Sie, was Sie da machen!“ Diese Tonlage. Diese Anmaßung. Diese absolute Anspruchsberechtigung. Diese Pose, Hände in die Hüften gestemmt. Sie hat das gottgegebene Recht, von mir zu erfahren, was ich suspektes Subjekt da mache!
Ich müsste jetzt eigentlich sagen, aber so etwas fällt mir immer erst hinterher ein: „Das ist absolutely non of your fucking business, solange ich mich auf einer öffentlichen Straße bewege und niemanden belästige. Aber wenn Sie fürchten, dass ich Ihren komischen Kleinwagen aufbrechen will, während ich als fast 60 Jahre alter weißer Mann einen knallgelben Fahrradhelm auf dem Kopf trage und mein Fahrrad genau vor Ihrem Büro abgestellt habe, dann rufen Sie doch bitte schnell die Polizei!“ Leider, wie gesagt, fehlt mir diese abgeklärte Geistesgegenwart. Ich rechne bei aller Erfahrung einfach immer noch nicht mit bestimmten Verhaltensweisen.
Stattdessen nehme ich die Frau verschwörerisch mit zu meinem eigenen Auto, dessen Seitenspiegel vor zwei Tagen in dieser Parklücke von einem vorbeischrammenden Fahrer ramponiert wurde. Die weggefetzte Plastikabdeckung des Spiegels ist es, die ich nicht wiederfinden kann. Ich zeige und erkläre ihr den ganzen Sachverhalt samt ausgedehnter Suchzone, da das in Autofarbe lackierte Teil theoretisch viele Meter weit in alle Richtungen katapultiert worden sein könnte. Meine Anklägerin hört mich misstrauisch an. Die ausführliche Erklärung scheint sie zwar ein wenig zu beruhigen, doch eines tut sie selbstredend nicht: für ihre kaum verhüllte und haltlose Verdächtigung, mich kurz vor einer Straftat erwischt zu haben, um Entschuldigung bitten. Sie ist eine Frau, und sie hat Rechte.
Ein wenig Empathie würde ihr zwar guttun, doch das Empathischste, das ich von meiner Anklägerin zu hören bekomme, ist: „Wissen Sie, ich wohne auf dem Land. Und da ist das so, dass man nachfragt, wenn man etwas sieht, das man nicht versteht.“ Ja, Gnädigste, vielleicht sollten Sie dann auch auf dem Land arbeiten statt in einem Großstadtbüro. Denn hier sieht man beim Telefonieren durchs Fenster andauernd Sachen, die man nicht versteht. Weil Menschen sich nicht so verhalten, wie es im Kuhstall als normal gilt, und dennoch völlig harmlos. Aber vielleicht haben Sie ja bei dem jungen Mann vom vorigen Mal einen Awareness-Kursus gemacht. Gratuliere: mit Auszeichnung bestanden.
Was mir von solchen Begegnungen bleibt, ist noch lange in der Magengrube rumorende Wut auf eine Egomanie, die sich so ungehemmt austobt: Ich, ich, ich bin der Nabel der Welt! Denn ich, ich, ich bin eine Frau und ich darf das! Ach, wäre es doch nur wirklich so, wie es heißt: dass einer der Vorzüge des Großstadtlebens in seiner vielzitierten, befreienden Anonymität besteht – und würde man also auch wirklich in Ruhe gelassen, solange man nicht gerade mit blitzendem Dönermesser und „Allahu akbar!“ brüllend durch die Straßen läuft oder Leute von hinten mit dem E-Scooter über den Haufen fährt. Doch irgendetwas hat dieses bürgerlich gepflegte Aneinandervorbeileben in den letzten Jahren gründlich vergiftet. Und leider fällt es mir immer häufiger am Verhalten meist deutlich jüngerer Frauen auf.
Ich weiß nicht, was sie mit der Muttermilch oder eher einem industriell produzierten Ersatzprodukt eingesogen haben. Vielleicht ist es auch das ansteckende Sendungsbewusstsein der von ihnen gewählten Politikerinnen von Baerbock bis Esken und von Göring-Eckardt bis Nietzard. Vielleicht die eingefleischte Kommunikationskultur der weiblich besetzten Führungsetagen im Arbeitsleben. Aber dieses absolute empowerment, nein entitlement, das sie gegenüber Männern (und Frauen) meiner Generation ohne jeden Skrupel oder Selbstzweifel an den Tag legen, diese automatisch eingenommene Richterinnenrolle und kompromisslose Selbstermächtigung – das muss wohl dieser Feminismus sein, von dem man jetzt bzw. seit 1968 immer so viel hört. Und gewiss hat er unsere Gesellschaft unglaublich vorangebracht.
Was? Einer der Beteiligten an diesen beiden Fällen von weiblicher Crashkurs-Navigation sei doch ein Mann gewesen? Ja, stimmt. Eine Art Mann war auch dabei.
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