Wer ist der investigative US-Journalist, der am 8. Februar enthüllte, die Gasleitung Nordstream sei auf direkten Befehl von Präsident Biden gesprengt worden? Während die Bundesregierung ohrenbetäubend schweigt, setzen deutsche Leitmedien ihrem 85-jährigen Konkurrenten im Nachrichtengeschäft schon mal den Aluhut auf.

Seymour Hersh im Jahr 2004 (Foto: Institute for Policy Studies, Lizenz: CC BY 2.0)

Wer sich als Journalist und Meinungsmacher wieder und wieder mit seinen Auftraggebern und Chefs entzweit, dem dürfte man eher keinen Karrierismus oder opportunistisches Streben nach Status und Macht unterstellen. Vielmehr ist jemand mit diesem Charakterzug eher verdächtig, seine Auffassung von Wahrheit und Gerechtigkeit höher zu stellen als ein Redaktionsstatut oder sonstige hausinterne Leitlinien. In diesem Sinn muss Seymour Hersh wohl als Getriebener begriffen werden. Getrieben von seinen Botschaften.

Im Jahr 1961, mit gerade einmal 24 Jahren, gründete Hersh in seiner Heimatstadt Chicago die Stadtteilzeitung „Evergreen Dispatch“. Mitbegründer war Bob Billing, der ehemalige Chefredakteur aus Hershs erstem journalistischem Job als Polizeireporter bei einer kleinen Nachrichtenagentur. Doch schon nach einem Jahr überwarf sich Hersh mit Billing im Streit um den Kurs des Evergreen Dispatch, der kurz darauf eingestellt wurde.

Zeitsprung: 1967. Der Vietnamkrieg tobt. Hersh arbeitet inzwischen für die Agentur Associated Press (AP) und hat sich bereits einen Namen mit investigativen Stories gemacht. Als er nun einen Bericht verfasst, die US Army lagere im Ausland Giftgasmunition, verlangt AP die Kürzung seines Manuskripts auf ein Zehntel der Ursprungslänge. Hersh weigert sich und kündigt. Die „New Republic“ bringt seinen Bericht in voller Länge.

Weil sich Hersh vom demokratischen Senator Eugene McCarthy ein Ende des Vietnamkriegs verspricht, falls dieser Präsident wird, versucht er sich nun als Wahlkampfhelfer für McCarthy. Es dauert drei Monate, bis Hersh sich mit dem Senator zerstreitet, das Wahlkampfteam wieder verlässt und endgültig auf die Seite des Journalismus zurückkehrt.

Nun begann die große Zeit des Reporters Seymour Hersh. 1969 gelang ihm einer der größten Coups in der Geschichte des investigativen Journalismus: die Aufdeckung des Massakers von My-Lai. Eine US-Kompanie hatte in dem vietnamesischen Ort 500 Zivilisten massakriert, darunter mehr als 170 Kinder, darunter wiederum 56 Säuglinge, und außerdem zahlreiche Frauen vergewaltigt. Nach monatelangen Recherchen und gestützt auf zahlreiche anonyme Quellen – dieses Vorgehen würde sein Markenzeichen werden – brachte Hersh den Artikel schließlich in mehr als 35 US-Zeitungen unter.

Das löste eine politische Lawine aus. Anfänglich hatte US-Präsident Nixon das Massaker noch als „vereinzelten Zwischenfall“ zu verharmlosen versucht. Wie sich herausstellte, wusste die Armeeführung jedoch frühzeitig Bescheid und hatte versucht, die Gräueltat zu vertuschen. Nicht zuletzt dank Hershs Enthüllung kippte in den USA die Stimmung gegen den Vietnamkrieg. 1970 erhielt er für seine Veröffentlichungen über My-Lai die renommierteste amerikanische Auszeichnung für Reportagejournalismus, den Pulitzer-Preis. Der spätere Sturz Nixons über die Watergate-Affäre ist neben den Hauptstadt-Reportern Carl Bernstein und Bob Woodward von der Washington Post zu einem beachtlichen Teil wohl auch den Watergate-Beiträgen Hershs in der New York Times zu verdanken.

Ein weiteres Charakteristikum von Hershs investigativer Arbeit entwickelte sich während seiner folgenden sechs Jahre als fest angestellter Reporter der New York Times: Hershs erstaunlich guter Draht zum Geheimdienst CIA. Nicht nur hatte ihn ein Insider des Dienstes 1974 auf die Spur gebracht, dass der CIA den Staatsstreich in Chile gegen den demokratisch gewählten Sozialisten Salvador Allende mit acht Millionen Dollar finanziert hatte. Eine seiner Quellen steckte ihm im selben Jahr auch die „Operation CHAOS“, eine Sammlung von über 500 Akten zu illegalen Bespitzelungen der CIA im Inland, vor allem gegen Mitglieder der Anti-Vietnamkriegs-Bewegung. Die Aufdeckung dieser „Familienjuwelen“ genannten Fallsammlung durch Hersh führte zu umfangreichen Reformen der CIA. Nebenbei hatte Hersh endgültig den Investigativ-Journalismus als eigene Sparte in den Medien etabliert.

Der Zugang zu weltweiten geheimdienstlichen Erkenntnissen der CIA dürfte Hersh auch in den Folgejahren immer wieder genützt haben. So etwa, als er bereits 1985 die Bestrebungen Pakistans öffentlich machte, zur Atommacht zu werden. Die Regierung in Islamabad stritt dies natürlich ab, testete dann aber 1998 erfolgreich ihre erste Atomwaffe.

In der Folge der Terroranschläge des 11. September 2001 wurde Hersh ein weiteres Mal zum „pain in the ass“ einer US-Präsidentschaft, in diesem Fall derjenigen von George W. Bush. Er brachte die misslungene und vom Weißen Haus dilettantisch geplante Kommandoaktion zur Ergreifung Mullah Omars an die Öffentlichkeit, er berichtete 2004 als Erster über Folter im US-Gefängnis Abu Ghraib. Im „Krieg gegen den Terror“ war Hersh das unkontrollierbare Gegenmodell zum sorgfältig gelenkten und zensierten „embedded journalism“, den Washington der Welt präsentierte.

Kein Wunder, dass auch Friedensnobelpreisträger Barack Obama als US-Präsident unter Hershs Wahrheitsfindungstrieb litt. Der nämlich überführte Obamas Regierung nicht nur zahlreicher „extralegaler Tötungen“ als Teil ihrer Antiterror-Strategie im Mittleren Osten, sondern veröffentlichte 2015 auch einen Gegenbericht zur offiziellen Washingtoner Darstellung über die Auffindung und Tötung des Terrorfürsten Osama bin Laden. Diese Chronik fiel deutlich weniger ruhmreich für die Planer des amerikanischen Rachefeldzugs aus, denen zudem weit weniger eigenes Recherche-Geschick bei der Fahndung nach bin Laden zugesprochen wurde: Im Wesentlichen habe der pakistanische Geheimdienst ISI die Arbeit geleistet. Eine Darstellung Hershs, die nach Auffassung des ehemaligen CIA-Offiziers Philip Giraldi glaubwürdig ist.

Andere Stimmen finden sich, die den Wahrheitsgehalt von Hershs jüngeren Arbeiten mehr und mehr anzweifeln. So etwa einen Bericht aus dem Jahr 2017, wonach 80 Giftgas-Tote in der syrischen Stadt Chan Schaichun nicht auf das Konto des Assad-Regimes gegangen, sondern durch die Explosion eines Chemikalienlagers umgekommen seien.

Und nun also Nordstream. Auf Weisung von Präsident Joe Biden seien die Pipelines durch Spezialkräfte der US Navy gesprengt worden; europäische Verbündete wie vor allem Norwegen seien informiert und involviert gewesen, berichtet Hersh minutiös und detailliert auf seiner Website bei Substack. Wieder spielt in seinen Darstellungen eine hochrangige anonyme Quelle die Hauptrolle. Wieder holte sich Hersh – auch das ein Markenzeichen – die heftigen Dementis des Weißen Hauses und des ihm so vertrauten CIA vorsorglich schon selbst ein und stellte sie gleich vorn in die eigene Geschichte. Wobei an ein Bekenntnis von David Remnick erinnert werden sollte. Der enge Vertraute Hershs beim Magazin „The New Yorker“ behauptet: „Ich kenne jede einzelne Quelle in seinen Arbeiten“, und zwar auch „jeden pensionierten Geheimdienstmitarbeiter, jeden General“. Man spreche das bei jedem Artikel gemeinsam durch.

Was ebenfalls zu einer klassischen Hersh-Enthüllung gehört, solange sie noch nicht die für ihn typische Metamorphose von der „Verschwörungstheorie“ zum Platz in den Geschichtsbüchern durchlaufen hat: Politik und Medien gehen zunächst wahlweise auf Tauchstation (da von Enttarnung bedroht) oder auf Konfrontationskurs (da von einem Konkurrenten im Newsgeschäft überrumpelt). In diesem Fall nicht nur in den USA, sondern auch in Deutschland: Schließlich wäre es dieses Land in Europa, das im Falle einer wahrheitsgemäßen Schilderung Hershs wie ein Lakai dastünde, der sich noch besonders tief gebückt hätte, um den Tritt seines Herrn in Empfang zu nehmen.

Es gibt also mindestens Reputation, wenn nicht gar viel mehr zu verlieren. Den Anfang der sofortigen Aluhutisierung Hershs machte deshalb auf deutscher Seite ein Leitmedium der digitalen Ära, das während der Corona-Zeit durch penetranteste Regierungspropaganda in Erscheinung getreten war: die Nachrichtenplattform T-Online. Der heute 85-jährige Hersh sei „nicht irgendwer“, gönnt ihm immerhin der ein halbes Jahrhundert jüngere Washington-Korrespondent Bastian Brauns großzügig. Doch dann kommt das Medium, das dem Werbeflächenbetreiber Ströer gehört, investigativ zur Sache: Die einzige Quelle für „seine extrem heikle Version“ nenne Hersh überhaupt nicht, wird da messerscharf herausgearbeitet.

Was einen Washington-Korrespondenten eigentlich nicht verwundern dürfte, der auf Insider-Informationen aus der Adminstration angewiesen ist: Wer eine Quelle „verbrennt“, die möglicherweise sogar mit am Kabinettstisch sitzt, kann auch gleich mit Oneway-Ticket zum Mars fliegen. Aber vielleicht kommt Brauns ja ohne Innenansichten der Biden-Regierung aus. Immerhin ließ sich der Washington-Korrespondent von einem namentlich genannten Ex-CIA-Büroleiter in Moskau bestätigen, dass Hersh sich in den vergangenen Jahren „zunehmend mit Verschwörungen und Unsinn“ beschäftigt habe. Case closed.

Offenbar zur Sicherheit legt T-Online dennoch nach – merkwürdigerweise ausgerechnet mit Aussagen, die Hershs Recherchen eher unterstützen, als sie zu entkräften. Zum einen mit der berüchtigten Pressekonferenz von Joe Biden, bei der dieser in Gegenwart von Kanzler Olaf Scholz sagte: „Wenn Russland einmarschiert … wird es Nord Stream 2 nicht mehr geben. Wir werden dem ein Ende bereiten“. Und zum anderen mit der Aussage von Unterstaatssekretärin Victoria Nuland bei einem Briefing des Außenministeriums: Falls Russland in die Ukraine einmarschiere, werde Nord Stream 2 nicht mehr fortgeführt werden, „auf die eine oder andere Weise“. Und das sollen nun die Statements höchster US-Politiker sein, die Hersh desavouieren?

Pressekonferenz mit Biden und Scholz am 7. Februar 2022: „Wir werden dem ein Ende bereiten“

Denn das scheint das Ziel zu sein, auf das die Medienmeute sich wie von selbst eingeschossen hat. Es sei denn, die Redaktionen schwiegen am Tag danach lieber, wie es etwa „Zeit“, „FAZ“ und „Spiegel“ bis mindestens zum Abend tun. Die Online-Ausgabe der „Welt“ hebt lediglich vielsagend hervor, die russische Führung habe die Geschichte „aufgegriffen“, stehe aber „selbst im Verdacht, hinter den Explosionen zu stehen“ – dies ganz ohne Quelle, womit Hersh immerhin eine mehr zu bieten hat.

Das Handelsblatt gönnt der möglicherweise folgenreichsten Recherche des Jahrzehnts die untersten Absätze seines „Morgen-Briefings“ – gleich nach dem Aufreger „Neues Halbleiterwerk in Magdeburg“. Dann wird Hersh kurz als „umstritten“ abgefrühstückt, bevor es zum Fazit geht: „Wäre das Thema nicht so ernst und der Verdacht, den Hersh äußert, so ungeheuerlich: Man könnte die ganze Pipelineaffäre als Plot eines sehr gut ausgedachten Spionagethrillers genießen.“ Wobei es hier in keiner Weise um Spionage geht, sondern um das gewaltsame Abkoppeln Deutschlands von seiner Gasversorgung. Aber falls Sabotage gemeint war: So wichtig scheint es alles nicht zu sein. Textchef Christian Rickens grüßt abschließend locker vom Hocker: „Ich wünsche Ihnen einen Tag, an dem Sie nicht im Trüben tauchen.“

Zum Aufklaren trägt der deutsche Journalismus jedoch bis zum Abend nicht mehr viel bei. Hersh hat da in seinem Lebenswerk trotz mancher Fehlschläge und Irrungen mehr vorzuweisen. Für eine über Jahrzehnte hart erarbeitete Glaubwürdigkeit als Enthüller unangenehmer Wahrheiten spricht, was die Journalistin Susanne Hoffmann in einem 2021 produzierten Hörfunkfeature des Bayerischen Rundfunks über die amerikanische Reporterlegende Hersh sagt: Er sei der Stachel im Fleisch der Mächtigen und zeige der Welt das „hässliche Gesicht der USA“. Mit dem 8o-jährigen Joe Biden hat der 85-jährige Seymour Hersh jetzt Frischfleisch gestochen.


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