TWASBO ist ein religionsfernes Magazin. Unser Autor ist Katholik. Die Schnittmenge: Wir erschrecken, wenn gedanken- und empathielos entwertet wird, was Menschen heilig ist. „Zivilgesellschaft“, Medien, Politik und selbst die Kirche haben dieses Erschrecken verlernt.

Einen Wertstoffcontainer für Kerzen gibt es nicht. Deshalb steht das Licht, das die Pfarrei Aschau im Chiemgau Gläubigen entzünden wollte, in Form einer Wachskerze mit dem Bild der doppeltürmigen Pfarrkirche auf einem Münchner Wegwerfbehälter für Weinflaschen: ausgelöscht. Ein trauriger Anblick. Als gewichtige Gabe von über einem Pfund sollte die Kerze die Erinnerung lebendig halten an einen großen Augenblick im Lebenslauf. Unklar, ob sie anlässlich einer Erstkommunion verschenkt wurde oder zu einer Hochzeit. Jedenfalls ist sie ein Symbol, das etwas anderes verdient hätte als die Achtlosigkeit, die ihr zuteil wurde: einmal entzündet, augenscheinlich nur für wenige Minuten, schnell als entbehrlich, ja geradezu lästig empfunden und kurzerhand entsorgt.

Glaubenssymbol, gerettet vor dem Wertstoff-Recycling

„Als die Dinge heilig waren“, so der Titel einer volkskundlichen Studie über „Gelebte Frömmigkeit im Zeitalter des Barock“, wäre es niemandem in den Sinn gekommen, eine kirchliche, in der Regel geweihte Gabe derart unsensibel als Müll anzusehen, den man irgendwie loswerden muss.

Seit alters her standen heilige Dinge außerhalb profaner, also weltlicher Verfügungsgewalt. Für einen Griechen des Altertums war es selbstverständlich, unbrauchbar gewordenes Tempelinventar wie Opferschalen oder durch Schadensfeuer zerstörte Votivgaben nicht wie Abfall zu behandeln, der im Haushalt anfällt, sondern rituell und würdevoll in eigens angelegten Opfergruben zu bestatten.

Dieses archaische Verständnis für die Aura des Heiligen hat sich in letzten Spuren bis in unsere Zeit hinein erhalten – etwa wenn zwei Münchnerinnen darüber diskutieren, was man in der Großstadt mit geweihten Palmbuschen (Gebinden zum Feiertag Palmsonntag) machen soll, wenn sie unahnsehnlich geworden sind, ohne dabei einen Frevel zu begehen. In den Mülleimer werfen, darin sind sie sich einig, ist unmöglich. Auf den Kompost geben, das ginge wohl, wenn denn einer vorhanden wäre. Oder im Ofen verbrennen, auch das wäre angemessen.

Ganz im Gegensatz zu solchen Überlegungen über die Pietät, die Dingen anzugedeihen ist, die man für heilig hält, stand eine Mode in Studenten-WGs: Dort fand man es schick, eine Weihwasserflasche in Marienform, von der Großmutter eines Bewohners aus Lourdes mit nach Hause gebracht, als Behältnis für Spülmittel zu verwenden. Eine Geschmacklosigkeit im Zeichen jener postmodernen Haltung, die alles für ironisierbar hält – und damit nichts ernst nimmt.

Eines der bedeutendsten Symbole der Christenheit ist das Licht, das die Osternacht erhellt. Die Auferstehungsgottesdienste sind Feste von überragender Sinnlich­keit. In der Nacht zum Ostersonntag beginnt die Messe mit dem Entzünden der Oster­kerze am geweihten Osterfeuer. Beim Einzug in die dunkle Kirche erschallt dreimal der Ruf „Christus, das Licht!“, den die Gemeinde mit „Dank sei Gott“ beantwortet. Von der Osterkerze wird das Licht durch die ganze Gemeinde gereicht, entzündet von Kerze zu Kerze, ein Zeichen der Gemeinschaft. Im Osterlob heißt es:

„In dieser gesegneten Nacht, heiliger Vater, nimm an das Abendopfer unseres Lobes, nimm diese Kerze ent­gegen als unsere festliche Gabe! Aus dem köstlichen Wachs der Bienen bereitet, wird sie dir dargebracht von deiner heiligen Kirche durch die Hand ihrer Diener. So ist nun das Lob dieser kostbaren Kerze erklungen, die entzündet wurde am lodernden Feuer zum Ruhme des Höchsten. Wenn auch ihr Licht sich in die Runde verteilt hat, so verlor es doch nichts von der Kraft seines Glanzes. Denn die Flamme wird genährt vom schmel­zenden Wachs, das der Fleiß der Bienen für die Kerze bereitet hat.“

Diese Liturgie erinnert an den Aufwand, der nötig ist, um eine Kerze von 600 Gramm Gewicht herzustellen – eine Kerze wie die auf dem Münchner Container zurückgelassene. Wofür haben die Bienen ihren „Fleiß“ aufgewendet, wenn unsere schöne neue Wegwerfwelt dem schmel­zenden Wachs keinen erleuchteten Sinn mehr abzugewinnen vermag?

Für einen Griechen des Altertums war es selbstverständlich, unbrauchbar gewordenes Tempelinventar in eigens angelegten Opfergruben zu bestatten.

Aber die geweihte Kerze auf dem Müllcontainer verwundert nicht länger, wenn man weiß, wie die Kirchen selbst als Hüter des Heiligen mit diesen Dingen umspringen. Etwa mit dem Ewigen Licht. Im Januar 2022 lief im SWR-Fernsehen eine Dokumentation mit dem Titel „Gott ohne Haus? Wenn die Kirchen verschwinden“. Der Beitrag zeigt das am Beispiel der katholischen Pfarrkirche St. Norbert in Kaisers­lautern. „Alles muss raus“ hieß es dort, bevor die Abbruchbagger kamen. Alles – das beinhaltete auch die Heiligen Dinge, die zu einem Gotteshaus so unabdingbar gehören wie Wasser ins Meer. „Das Allerheiligste ist aus dem Tabernakel verschwunden, das Ewige Licht ist erloschen“, so der O-Ton. Im Film ist zu sehen, wie ein Messdiener das Allerheiligste – die Monstranz mit der gewandelten Hostie, die zum Leib Christi geworden ist – in einem Koffer aus der Kirche trägt, als wären darin ein paar alte Lumpen, die man zu nichts mehr gebrauchen kann.

„Man macht keine Kirche leer“, sagt vor der Kamera eine alte Frau. „Wir haben das sehr gut kom­muniziert“, findet hingegen der Pfarrer. „Wir bräuchten Seelsorger, keine Buchhalter und Statistiker“, protestiert die Gläubige. „Wir versuchen, den Immobilienbestand vor Ort so zu reduzieren, dass wir uns auf eine Kernimmobilie zurückziehen“, kauderwelscht der Immobilien­manager der Erzdiözese Freiburg, der Kirchen „auf ihre Effizienz kontrolliert“. Und der Bischof verkündet zuletzt: „Nach Abwägung der Gründe und nach Anhörung des Priesterrats gemäß Kanon 1222 Paragraph 2 des Kirchenrechts ordne ich daher hiermit Folgendes an: Die Kirche St. Norbert in Kaiserslautern wird mit Wirkung vom Ende des Profanierungsgottesdienstes für profan erklärt.“ Profan ist das, was übrigbleibt, wenn der Heilige Geist ausgetrieben wurde.

Ist Kunst, kann aber trotzdem weg (Screenshot: SWR)

Dass Kirchen mehr sind als Funktionsgebäude, war einmal unstrittig. Dass eine geweihte Kerze, entzündet am Ewigen Licht, mehr ist als ein Docht in einer Wachshülle, der zum Brennen gebracht werden kann, war über Jahrhunderte selbstverständlich. Leo Tolstoi erzählt in „Krieg und Frieden“ vom „feierlichsten Mysterium der Welt“, der Geburt, von der „Rührung und Weichheit aller Herzen angesichts des Unbegreiflichen“. Im Hause des Fürsten Andrej Bolkonskij wartet man auf dieses Mysterium – und seine alte Kinderfrau bereitet sich auf ihre Art darauf vor: „Da habe ich auch die Kerzen von der Trauung des Fürsten mitgebracht, sie wollen wir vor seinem Schutzheiligen anzünden“. Die Kerze, die bei der Hochzeit brannte, möge – aufgela­den mit heiliger Aura – die Gebärende beschützen und den Angehörigen die Angst vor Komplikationen bei der Geburt nehmen.

Als wir Kinder waren, haben wir unsere Kommunionkerze natürlich nicht postwendend im Müll entsorgt, nachdem die Geschenke ausgepackt waren. Auf den Weißen Sonntag, den Tag der Erstkommunion, folgt der Marienmonat Mai, an dem wir in unseren Kommunionsanzügen die Andachten besuchten. Zu unserer Freude wurden dort jedes Mal feierlich unsere mitgebrachten Kerzen entzündet, als Zeichen unserer Aufnahme in die Gemeinschaft. In vielen Familien war es Brauch, am Geburtstag mit der Taufkerze auf dem Tisch zu frühstücken – eine Erinnerung an die Verbundenheit des Geburtstagskindes mit etwas Höherem, an dem man Anteil haben darf. Ganz zu schweigen von den Kerzen des Weihnachtsbaums, deren Licht in den Stuben leuchtete wie der Stern zu Bethlehem.

Mit derartigen Symbolen und Sentimentalitäten kann eine Gesellschaft nichts mehr anfangen, die das Schicksal ihrer Kirchen Managern anvertraut. Leuten, die ausschließlich in ökonomischen Kategorien denken und sprechen können wie der Freiburger Diözesan-Immobilienverwerter aus dem Dokumentarfilm des SWR, der es „beeindruckend“ findet, wenn ein Kirchturm „verwertet werden konnte“. Das gilt dann als „immobilienwirtschaftlich gelungen entwickelt“ im Rahmen eines Luxus-Wohnprojekts unter dem Label „Churchill – Kirche und Chillen“. Eine Kirche zu entweihen stellt für solche Funktionärs-Apparatschiks nichts weiter dar als eine Frage bürokratischer Effizienz: „Wenn man eine gewisse Selektierung benötigt, sind wir aufgrund unserer Software völlig flexibel.“

Eine „Kirche“, die sich derart antikirchlich und areligiös positioniert, hat aufgehört, Religionsgemeinschaft zu sein. Sie sollte dem Beispiel vieler Institutionen folgen und sich auch offiziell sowie durch Umbenennung sichtbar ihrer lästigen Traditionen entledigen. „Kapitalgesellschaft für soziale Dienste / Zeitgeistunterstützungsverein“ wäre immerhin kein Etikettenschwindel.

Eine „Kirche“, die derart roh und schonungslos mit ihren heiligsten Symbolen umgeht, die das Ewige Licht ausbläst, als wäre es ein Wegwerf-Artikel, der seine Schuldigkeit getan hat, bereitet den Boden für den achtlosen und unbarmherzigen Umgang ihrer Mitglieder (früher nannte man diese Menschen „Gläubige“) mit den Dingen, die durch Generationen Verehrung und Wertschätzung gefunden haben.

„Das wesentliche Element der conditio humana ist das Gefühl des Heiligen“, schrieb der Religionswissenschaftler Mircea Eliade: „Durch die Erfahrung des Heiligen hat der menschliche Geist den Unterschied zwischen dem erkannt, was sich als wirklich, mächtig, bedeutsam und sinnvoll enthüllt, und dessen Gegenteil – dem chaotischen und gefahrvollen Fluss der Dinge, ihrem zufälligen und sinnlosen Aufgang und Untergang. Mensch sein oder, besser: werden heißt ‚religiös’ sein.“

Die „existenzielle Erfahrung des menschlichen Daseins“, von der Eliade spricht, „die Erfahrung des Heiligen“, jene prägende „menschliche Urerfahrung“, ist in einer Eventgesellschaft untergegangen, deren Jahreskreislauf nicht mehr durch die Naturgewalten und deren rituelle Einhegung wie zum Beispiel Bittgänge durch die Flur bestimmt ist. Ihr Rhythmus wird bestimmt durch ein besinnungsloses Taumeln von Event zu Event, wobei kirchliche Feste wie Ostern oder Weihnachten bestenfalls einen Nischenplatz neben Jahres-Highlights wie dem Oktoberfest oder dem Champions-Leage-Finale einnehmen dürfen.

So hat auch die Kerze in ihrer archaisch-kirchlichen Form, als Symbol des Heiligen, ausgedient. Auferstanden aus den Ruinen der Religiosität allerdings darf sie weiter konsumiert werden: als profanes Symbol, umgewandelt zur freien Verfügungsmasse weltanschaulicher Gesinnungsbekundung und degeneriert zum Emotions-Katalysator für Vermarktungen aller Art. Die Profanisierung der Kerze von der Wellness bis zur hypermoralischen Lichterkette gegen XYZ (gerne „gegen rechts“) beleuchtet im eigentlichen Sinne einen Endzeit-Kapitalismus, in dem nichts mehr einen Wert hat, das nicht ökonomisch „in Wert gesetzt“ und vermarktet werden kann.

Bei inszenierten „social events“ und in künstlichen Wohlfühloasen, die von einer Wellnessindustrie erbaut werden, um dem entfremdeten Menschen jene elementaren Grunderfahrungen zu suggerieren, von denen er sich losgesagt hat, darf die Kerze noch brennen. Als Flämmchen eines „depressiven Hedonismus“, wie es der 2017 verstorbene Kulturtheoretiker Mark Fisher treffend genannt hat. Ansonsten ist sie ein Fall für den Abfalleimer. Wessen Lebensinhalt es ist, sich zu Tode zu amüsieren, der bedarf des Heiligen nicht mehr.


Jürgen Schmid (Jg. 1968) ist Historiker und freier Autor in München


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