Der Jahrestag des D-Day, der alliierten Landung in der Normandie, liegt bereits Wochen zurück. Aber diesmal überdauert das Gedenken sein Verfallsdatum: Eine Szene von nur drei Sekunden Länge aus einem Dokumentarfilm zum Thema weigert sich, von mir vergessen zu werden.

Ein junger Mann sitzt am Strand, seine Augen sind weit aufgerissen, aber leer vor Erschöpfung und Benommenheit. Er ist Soldat, deutscher Wehrmachtssoldat. Keine erkennbaren Dienstgradabzeichen, keine Kopfbedeckung, schmutzige, ramponierte Uniform. Ein einfacher Infantrist, vielleicht MG-Schütze. Sehr jung, 17, oder doch schon 18? Sie hatten ganz Junge und ganz Alte in Stellung gebracht, im Kampf Unerfahrene jedenfalls, gerade erst eingezogen. Noch nicht das allerletzte, aber schon ein Verlegenheits-Aufgebot; noch ein halbes Jahr zuvor hätte man ihn nicht von seiner Lehrstelle abgezogen und nach wenigen Wochen Grundausbildung gleich hierher gebracht. Die Kampferprobten, die Stahlharten, die schon viel gesehen und mitgemacht haben, stehen alle an der Ostfront, Stalins Roter Armee gegenüber.

Hier aber ist Westen. Frankreich, Normandie. Anfang Juni 1944. Die Landung der Amerikaner, Kandier und Briten ist gerade erst wenige Stunden her. Sie haben es geschafft, gegen erbitterten deutschen Widerstand. Und er, namenlos, war einer dieser erbitterten Verteidiger des „Atlantikwalls“, hier am Omaha Beach oder Utah Beach. Die Strandabschnitte, die der alliierte Kriegsplan den Amerikanern zugewiesen hatte, aber er weiß nicht, dass es diese Namen dafür gibt und dass sie in die Geschichte eingehen werden.

Unklar, worauf er sitzt: auf einem Hocker, auf Kriegsgerät, Bunkerbeton, einem verbogenen Stahlträger. Oder einfach auf dem Boden, halb Gras, halb Sand. Das Meer kann nicht weit sein, vielleicht 50, vielleicht 100 Meter. Vermutlich ist es eine Steilküste, von der aus er in zehn oder mehr Metern Höhe den Ärmelkanal überblickt. Der auflandige Wind pfeift hier oben immer noch stürmisch wie seit Tagen und Nächten, er zerzaust seine für einen Soldaten erstaunlich langen, vom Schweiß verklebten Haarsträhnen. Die Luft riecht mal nach Salz, mal nach Seetang, dann wieder Schiffsdieselqualm von den unablässig eintreffenden Nachschub-Einheiten, verbranntem Holz und Gummi, ausgelaufenem Kerosin der Flammenwerfer, jetzt weht ihm der Rauch amerikanischer Zigaretten in die Nase.

Das Donnern der Brandung ist wahrscheinlich zu hören, aber deutlicher und näher noch in seinem Rücken und vom Strand her das Dröhnen und Rattern von schwerem Kriegsgerät, das unablässig bewegt wird. Röhrende Panzermotoren und andere Kettenfahrzeuge, Jeeps, leichte Lastwagen, das, was heil von den ersten Landungsbooten herunterkam. Feindliche Kampfflugzeuge sichern den Himmel in souverän-kreisförmigen Bahnen, ein an- und abschwellendes Brummen der Turbopropeller, aber es fallen keine Bomben mehr. Was er kaum noch zur Kenntnis nimmt.

Er hört auch Kommandos, gebrüllt von US-Offizieren, das Stimmengewirr und dumpf-rhythmische Stiefelschritte vorbeimarschierender Soldatenkolonnen, feindselige Rufe, die auf ihn zielen und auf seine Kameraden, die da hocken wie er. Er versteht kein Wort, nur die Abscheu und den Hohn. Englisch gab es nicht an der Volksschule, diese betörend melodische Sprache des Feindes. In manchen Nächten hat er daheim heimlich „Songs“ auf Schellackplatten gehört.

Seine Einheit hat sich ergeben, aber erst, nachdem sie aus vermeintlich sicherer Stellung Dutzende anstürmender Soldaten in den Tod geschickt hat, viele von ihnen kaum älter als er. Dann traf es sie selbst. Maschinengewehrsalven. Handgranaten. Einschläge, spritzende Betonbrocken, Mörtelstaub, beißender Qualm. Schließlich Nahkämpfer mit auf der Waffe aufgepflanztem Bajonett. Am Ende kauerte er im Unterstand hinter den Sandsäcken, die Knie angezogen, mit über dem Kopf gefalteten Händen, damit sie nicht unkontrollierbar zitterten. Die Folge der Panik und des abklingenden Pervitins, das ihn seit 50 Stunden wachgehalten hatte. Das ihn durchhalten ließ bis zu diesem Punkt.

Mit den anderen deutschen Überlebenden ist er nun in Gefangenschaft, zusammengetrieben auf dieser Steilküste, wer noch selbst gehen konnte, die anderen herbeigeschleppt. Entwaffnet, bewacht von GIs mit Gewehren. Jemand spricht ihn an, einmal, noch einmal. Erst auf Englisch, dann in gebrochenem Deutsch. Will wissen, wie er heißt, was sein Rang ist, wie schwer verwundet er ist, was er weiß von deutschen Truppenbewegungen hinter der Front. Er hat gelernt, dass alles, was er dem Feind mitteilen darf, Name, Einheit und Dienstgrad ist, sonst ist es Hochverrat. Standgericht, ehrlos, Erschießung. Die Worte taumeln durch seinen Kopf, aber er kann sie nicht mehr trennen von denen, die von außen auf ihn eindringen, vom Lärm der Logistik nach einer gewonnenen und verlorenen Schlacht, von den Schreien in seinem Kopf.

Verkrustetes Blut an seinem Kiefer, er kann es im Mundwinkel schmecken, metallisch. Nur ist er nicht sicher, ob es seines ist oder das des Kameraden neben ihm im Unterstand, dem es das halbe Gesicht weggerissen hat, gerade als er sich dicht neben ihn presste für ein wenig mehr Deckung. Die Schreie. Sie hörten eine schreckliche Zeitlang nicht auf, aber es war ohnehin so viel Lärm dort, so nah, nie nachlassend. Lärm, der sich tief in seine Eingeweide gegraben hat, er kann ihn nicht abschütteln, bei aller Müdigkeit nicht. Er hört ihn nicht, er fühlt ihn. Das Nachbeben. Sein Gehör wird von einem schrillen, andauernden Pfeifton geplagt.

Doch dann drängt sich wieder die fragende, eindringliche Stimme in den Vordergrund: Name, Dienstgrad … er will dem Fragesteller in die Augen sehen, doch sein Kopf sackt weg, die Lider fallen ihm zu, er kann nur noch die Hand heben, ohne ein Wort. Als hilfloses Zeichen, dass er nichts mehr zu geben hat. Dass er jetzt nichts mehr beisteuern kann. Dass er am Ende ist, trotz all der bis gestern noch überschießenden Kraft seiner jungen Jahre. Und bei allem guten Willen und dem selbstverständlichen Gehorsam jedem gegenüber, der ihn mit Autorität kommandiert: Er kann seinen Kopf nicht mehr heben, die Halsmuskeln gehorchen nicht mehr. Hinter geschlossenen Lidern tanzt wieder der Tod.

Das Töten … das war nicht persönlich, das war der Krieg. Persönlich war nur das Sterben, links von ihm, rechts von ihm, ihm gegenüber. Falls er getötet hat, was er nicht genau weiß, weil so viele Geschosse aus so vielen Rohren kamen und er im merkwürdig flackernden Licht der Schlacht nie einen Anvisierten mit Sicherheit hat fallen sehen, oder weil er sein inneres Auge vor dieser Bestätigung von Ursache und Wirkung verschlossen hat – wenn also, dann hat er es als Teil einer großen Maschine getan, zu dem man ihn gemacht hat, zu dem er sich hat machen lassen. Und weil der eigene Überlebenstrieb es ihm befahl, und das Adrenalin, vielleicht auch das Pervitin, mit Nachdruck jedenfalls der Unteroffizier. Es fühlte sich nicht wie Töten an, wie er es sich vorgestellt hatte, sondern wie Maschinenarbeit, nur eben an Tötungsmaschinen.

Dabei ist oder war er doch jemand, der keiner Fliege etwas zuleide tun kann. Das sagt seine Mutter auch. Hilfsbereit. Nicht der Beste auf der Schule, aber von praktischem, schnellem Verstand an der Werkbank. Musikalisch auch, er singt gerne Schlager. Und zu Albernheit neigt er, für die seine Kameraden ihn liebten. Die Freundin zuhause, die bringt er auch zum Lachen.

Aus der Zeit gefallen ist er drei Herzschläge lang mein Sohn. Und als ich ihn abwinken sehe, diese kraftlose Geste vollständiger Erschöpfung und Verlorenheit, da will ich ihn in den Arm nehmen. Ich möchte ihm sagen: Schon gut, mein Junge, es wird wieder gut. Ihm als dem Sohn aller Väter, die nicht wissen konnten, in welche Zeiten hinein sie ihre Söhne zeugten. Deutsche. Amerikaner. Kanadier. Briten. Sie alle erhofften sich das Beste für ihre Söhne, und keiner von ihnen hätte sich ausgemalt, dass eines dieser kaum erwachsenen Kinder an einem Tag im Juni auf dem Strand die Geste eines kraftlosen Greises machen würde. Die Geste eines alten Mannes, gestern noch kindlich, männlich dennoch in all seinem Elend, seiner plötzlich hundert Jahre alten Schicksalsergebenheit.

Er hat tapfer seinen Kopf hingehalten für eine Idee, auch das war männlich, ebenso wie die grausame Hybris, die dieser Idee innewohnte. Doch die erfolgte Initiation, die bestandene Aufnahmeprüfung in die brutalste aller Männerwelten, ist kein Aufbruch, keine Erhöhung: Ein Mann zu sein bedeutet für ihn von diesem Augenblick an Zusammenbruch, Verwirrung, Überforderung, Schande und Schmerz.

Was aber wäre gewesen, wenn seine Seite gewonnen hätte? Wie wäre er dann den gegnerischen Soldaten, ihrerseits wehrlos zusammengetrieben auf der Steilküste, gegenübergetreten? Hasserfüllt und hochmütig, gnadenlos, weil sie ihn doch ebenfalls hatten töten wollen? Sie, der Feind, dem Endsieg im Wege, nun jedoch unterlegen. Hätte er diese Seite seiner neu gefundenen Männlichkeit ausgelebt? Oder wäre er trotz aller Härten – seinem menschlichen Kompass folgend – barmherzig gewesen im Sieg, mitfühlend im Tarngewand professioneller Coolness, so wie die US-Sanitäter, die nun ihn verbinden, ihn, der einige der ihren auf dem Gewissen haben könnte?

Unzählige wurden zu Männern, während sie durch die Hölle gingen wie er, manche hochmütig, manche getrieben, manche geduckt. Die meisten, die überlebten, blieben wortkarg oder verstummten ganz. Sie gründeten neue Familien und ein neues Land: das Land unserer Väter. Das Land, in dem wir später selbst erwachsen wurden. Über die Jahre hinweg bilden sie mit uns eine Linie, Berührung an Berührung, gewollt oder nicht. Und während ich über die Schulter nach ihnen schaue, spüre ich noch weiter vorn – derzeit ganz an der Spitze der Reihe – meinen eigenen Sohn.