Eine linke Buchhandlung voller belesener Menschen wird eines Abends an einem schlichten Begriff irre: Volk. Über Selbstwahrnehmung und Selbstreflexion von Teilen der „Bevölkerung“ verrät das nichts Gutes.
Dem armen deutschen Volk fehlt etwas, das andere besitzen: Es hat statt einer echten nur eine „fiktive Geschichte“. Weil es dieses Volk nämlich niemals gab oder jedenfalls nicht geben dürfte. Wer hätte das gedacht? Ich habe vor vielen Jahren mal (Wirtschafts-)Geschichte studiert, aber das ist meinen Professoren damals offenbar gar nicht bekannt gewesen.
Für solche überraschenden Erkenntnisse musste ich erst eines Dienstagabends in den „Buchladen in der Osterstraße“ in Hamburg-Eimsbüttel gehen, um für 7 Euro einen Vortrag des Berliner Historikers und Suhrkamp-Autors Michael Wildt aus Anlass seines neuen Werkes „Die Ambivalenz des Volkes“ zu hören. Und die Diskussonsbeiträge aus dem Publikum, etwa den mit der „fiktiven Geschichte“. Im Lauf des Abends erfuhr ich zum Stichwort „Volk“ noch einiges mehr: über notwendige Entsorgungs-, Desinfektions- und Ersetzungsanstrengungen. Was mich wirklich auf „neue Gedanken“ brachte, die uns der Autor einführend wünschte. Nur wahrscheinlich nicht diese.
Es war nämlich eine zutiefst verstörende und deprimierende Veranstaltung. Noch schlimmer, als ich es immer schon befürchte, wenn die Entgrenzungsphantasien von Sozialromantikern ins Spiel zu kommen drohen. Hier waren sie fast unter sich, einander größtenteils namentlich bekannt und per Du. Eine linke Buchhandlung, angesichts der horrenden Provokation des V-Wortes bis zum Anschlag gefüllt mit größtenteils älteren Semestern, die alle ihren Adorno verinnerlicht hatten. Das ist ein Ökosystem, in dem Atemluft sehr bald Mangelware wird. Noch bevor Schaufenster und Brillengläser von innen beschlagen.
Der bei „kontroversen“ historischen Themen unvermeidliche Herr Reemtsma war auch anwesend. In solch einem Kreis wurde es ihm später leicht gemacht, so etwas wie die Stimme der Vernunft zu verkörpern.
In diesem Ökosystem wird Atemluft bald Mangelware. Noch bevor Schaufenster und Brillengläser beschlagen.
Aber von Anfang an. Am Anfang steht eine Notiz im Veranstaltungsteil des Morgen-Newsletters von „Zeit Online“. Angekündigt wird eine Lesung aus einem Sachbuch, das von der „Ambivalenz“ (also Zweideutigkeit oder Janusköpfigkeit) des Volks-Begriffs handelt: „Wer vom ‚Volk‘ redet, muss dessen Vorzüge wie Abgründe nennen“, heißt es da. Daraus schließe ich, dass dies das Anliegen des in Rede stehenden Werkes und seines Autors sei: Gutes und Schlechtes am Begriff abzuwägen. So weit, so ergebnisoffen und damit überraschend interessant.
Welches Schlagwort aber stellt die zunehmend rabulistische „Zeit“, die in Eimsbüttel den Großteil ihrer Hamburger Kundschaft rekrutieren dürfte, dieser Notiz voran? „Pöbelbuch“. Das soll vermutlich dem für Zeit-Online-Redakteure und ihre Leser kochend heißen V-Wort das Verbrennungspotenzial nehmen. Und von tiefem Verständnis künden: Pöbel kommt von Populus, lateinisch für das (gemeine) Volk.
Pöbelbuch. Zugegeben, dieser unerwartet rotzige Auswurf aus dem Elfenbeinturm am Speersort macht mich noch ein wenig neugieriger. Vielleicht kommt es am Abend ja zum Einbruch der bodenständigen Lebensklugheit des Pöbels in die altbausanierte Biowolle-, Hirsekeks- und Helikopterelternwelt. Das wäre doppelt interessant. Auf nach Eimsbüttel!
„Kein billiges AfD-Bashing“ wolle man heute Abend betreiben, mahnt der Buchhändler die Versammelten eingangs begütigend. Als ob billiges AfD-Bashing ansonsten naheliegend sei, bloß aufgrund des V-Worts im Thema des Abends. Was es für die Versammelten natürlich ist. Sie scharren auf ihren Klappstühlen geradezu schon mit den Füßen. Das billige AfD-Bashing findet denn auch von Anfang an reichlich statt, dreimal allein durch den Autor selbst.
Eine Lesung, wie von der „Zeit“ angeküdigt, gibt es hingegen nicht, stattdessen einen Vortrag zum Buch. Aber auch mit dem ist Historiker Wildt überraschend schnell durch, kaum 30 Minuten stehen auf der Uhr. Ein Grund für den Geschwindigkeitsrausch: Nicht nur die Lesung, auch die angekündigte Abwägung von Gut und Böse des V-Worts ist weitestgehend entfallen. Wie, das war es schon? Ein sog. „Volk“ tritt allerhöchstens dann in gewisser Hinsicht nutzbringend in Erscheinung, wenn kurz mal ein Despot vom Thron gestoßen werden muss, siehe 1789? Weil es dann nämlich nicht lange fackelt? Ah ja.
Doch wie war das noch mal 1989, diese Parole „Wir sind das Volk“? Das, lässt uns Wildt wissen, war eine „Gruppe von Menschen, die sich anmaßte, für alle zu sprechen“. Wozu sie nicht das Recht hatte, von niemandem legitimiert war. Am allerwenigsten von Wildt und dem Eimsbüttler Revolutions-TÜV. Zack, da ist in einem Nebensatz die grandioseste Tat des (ost-)deutschen Volkes in seiner jüngeren Geschichte als Ordnungswidrigkeit entlarvt worden. Das Publikum atmet auf. Die Wiedervereinigung war ungültig.
Auch sonst, scheint es, wurde mit dem „Volk“ nur Schindluder getrieben. Weil es das V., siehe oben, niemals gab. Denn da waren ja immer auch Migranten. Die strömten ins Land und verwässerten das sogenannte Volk. Von daher kann sich also gar kein deutsches Volks- und Nationalbewusstsein herausgebildet haben. Und das aufstrebene Bürgertum jenes Nicht-Volkes kann ab 1871 ergo auch keine von nationaler Identität befeuerte Kraft und Kreativität, keinen Forscher- und Erfindergeist, keine Dichtkunst und Musikalität, keinen Optimismus und ganz allgemein keine Yes-we-can-Attitüde ohne Beispiel entfaltet haben. Alles Illusion. Alles fiktive Geschichte.
Das Publikum atmet auf. Die Wiedervereinigung war ungültig.
Merkwürdigerweise kann dieses Nicht-Volk aber einen strukturell immerwährenden, allgegenwärtigen Nationalsozialismus hervorgebracht haben. Das ergibt die Diskussion mit Autor und Plenum. Dauernd war gefühlt Nazi. Mit kurzen Unterbrechungen bis heute, und heute erst recht, siehe AfD, die wir aber bitte nicht billig bashen wollen. Macht und Missbrauch, Machtmissbrauch. Durch Nazis. Mehr war nicht. Eine Normalität des deutschen Volkes unter anderen Völkern hat es nie gegeben. Vorher nicht, nachher nicht. Das V-Wort existiert im Deutschen offenbar nur in extremo.
Ohnehin ist das V-Wort „pathetisch“, da ist man sich im Buchladen einig. Deshalb muss es weg. Schon eher sagen wir „Bevölkerung“, auch wenn das ein Vorgang ist und keine Grundgesamtheit, was aber kaum einer weiß. Das sei ja das Tolle an Merkel, kommentiert Wildt unter zustimmendem, verständnisvollem Gelächter, dass sie aus den pathetischen Begriffen oft so schön die Luft rauslasse. Und er zitiert die unvergängliche Kanzlerin aus dem Gedächtnis: „Bevölkerung sind alle, die hier sind.“ So klingt es auch gleich viel akzeptabler für Eimsbüttel.
Alles andere nämlich wäre eine „völkische Definition von Volk“. Also, wenn die Zugehörigkeit erst durch irgendein Merkmal begründet würde und nicht allen automatisch offenstünde, auch den Eisbären oder Kobolden, dann wäre das ein völkisches Volk. Das grenzt aus, statt zu integrieren. Aber selbst die nicht-völkische Definition von Volk, derzufolge rundweg alles zum deutschen V. gehört, sobald es nur will, muss immer noch weg.
Wir müssen sie durch etwas Zeitgemäßes ersetzen. Etwas, das Geflüchteten vollständig gleiche Rechte garantiert wie … äh … nicht Geflüchteten. Bleiberecht. Wahlrecht. Versorgungsrecht. Arbeitsrecht. Nicht bloß die allgemeinen Menschenrechte, die Migranten in Deutschland ohnehin die Verfassung zusichert. Von Rechten für Geflüchtete ist an diesem Abend überhaupt viel die Rede. Der Begriff Pflichten fällt nicht. Es ist so weit: Ich möchte flüchten. Aber ich kann nicht, denn ich sitze in der letzten Reihe der gesteckt vollen Bücherstube.
Inzwischen ist man bei der Frage angekommen, wodurch wir das V. denn ersetzen sollten. Und einer aus dem Publikum, oder ist es gar der Historiker da vorn, schlägt prompt vor: durch grenzenlose Solidarität. Jau, gute Idee, finden Teile des Auditoriums. Mir fällt kurzfristig die „Volkssolidarität“ der DDR ein, jene Massenorganisation, in der man mit Segen des ZK durchaus streng begrenzt solidarisch war.
In dem Moment aber sieht der schon erwähnte Herr Reemtsma dann doch den Zeitpunkt für eine Warnmeldung gekommen. Nämlich: Man könne leider beim besten Willen nicht mit allen auf der Welt solidarisch sein. Selbst Solidarität sei aus pragmatischen Gründen gezwungen, irgendwen auszugrenzen. Und daher wohl eher kein tauglicher Volks-Ersatz. Oha. Ratlosigkeit für Sekunden. Was tun?
Die Irritationen wachsen noch, als nun mein Sitz-Vordermann eine völlig unerwartete Frage stellt, die solidarische Gleichstellung von Migranten mit dem fiktiven Staatsvolk betreffend: „Wie will man unsere postindustrielle Gesellschaft mit so vielen Menschen gestalten, die nichts gelernt haben, die Sprache nicht sprechen und deren Kultur unsere Demokratie nichts bedeutet?“ Ein böses Hohn- und Protestgelächter gegen derart schamlose rechte Hetze brandet auf. Es bannt kurzfristig das Erschrecken über die kluge Frage. Der Fragesteller versucht noch, halb zurückzurudern, aber gesagt ist gesagt.
Und um das Maß voll zu machen, meldet sich jetzt eine jüngere Frau besorgt zu Wort: Also, sie sei ja schwer einverstanden damit, dass das deutsche Volk im Grunde gar nicht existiere. Aber wie könne es dann eigentlich so etwas wie „Volksverhetzung“ geben? Denn die existiere ja nun – siehe AfD – unbestreitbar? Man stutzt: Da ist was dran! Es ist ein unauflösbares Paradoxon. Ein Riss im Raum-Zeit-Kontinuum scheint sich im Buchladen aufzutun.
An dieser Stelle habe ich aufgehört, noch an die Einheit der vier Dimensionen oder auch nur die von Herz und Hirn zu glauben. Was ist bloß der Grund für so viel kollektive Selbstnegierung im Raum? Warum müssen Linke derart rabiat von sich weisen, zu einem gewachsenen Kollektiv namens Volk zu gehören – einem heute so wenig militanten und für alles offenen wie dem ihren noch dazu? Warum muss man sich selbst die historischen Wurzeln abschneiden, das Fundament unter den Füßen wegziehen, den Ast der Herkunft absägen, auf dem man sitzt? Dem kleinen Historiker in mir erscheint das völlig grotesk.
Dieselben Menschen würden Kurden oder Palästinensern jederzeit das Menschenrecht bescheinigen, ein Volk (und daher Staat) zu sein. Aber wie der Teufel vor dem Weihwasser scheuen sie vor der Selbstverständlichkeit zurück, dass auch die Deutschen ein Volk unter Hunderten sind – mit eigenen Traditionen, gemeinsamen Vorstellungen von Orten und Begriffen (außer „Volk“), mit eingefleischten Physiognomien, mit Schrullen, Licht- und Schattenseiten. Ein Volk mit besonderer historischer Verantwortung zur Wahrung der politischen Vernunft allerdings – wovon an diesem Abend nichts zu spüren ist. Auch und gerade sie, die Schon-immer-hier-Lebenden im linken Buchladen, repräsentieren dieses Volk beispielhaft: seine Familien-Stammbäume, seine gewachsene Kultur, seine Sitten und Bräuche, seine Sprache, seine Dialekte. Und seine schwierige Geschichte.
Dieselben Menschen würden Kurden oder Palästinensern jederzeit bescheinigen, ein Volk zu sein.
Seit kurz nach dem Urknall organisieren sich Menschen, um als Gruppe bessere Überlebenschancen zu haben. Aus Gruppen werden durch Wachstum Clans, dann unter weiterem Zustrom von außen her Völker. Die wiederum tauschen sich mit anderen Völkern aus, treiben Handel, nehmen Impulse und Menschen von außen auf – führen aber leider auch Kriege. Dass diese Kriege und das Klima in jüngster Zeit ganze Völkerwanderungen in Gang gesetzt haben, ist eben nicht der Beweis für die beliebige „Koalitionsfreiheit“ oder Bindungslosigkeit des modernen Menschen, sondern für die historische Beharrungskraft des größten denkbaren menschlichen Kollektivs.
Es liegt in seiner Natur, dass der Mensch seinesgleichen sucht und sich von anderen abgrenzt, auch und gerade als Immigrant. So entstehen Chinatown, Portugiesenviertel, Little Italy. Und nur für Deutsche (die im Ausland ganz genauso in Haufen zusammenglucken, wo irgend wöglich) soll all dies nicht gelten? Warum diese Schizophrenie, dieses unbedingte Von-sich-Abspalten? Das beschäftigt mich schon eine ganze Weile intensiv. Die beiden plausibelsten Erklärungen, auf die ich gestoßen bin, sind immer noch diese:
Erstens wirken all die immer noch unbearbeiteten Familiengeschichten im Land fort. Darin lauern seit Generationen beschwiegene Schrecken der Nazizeit. Hautnah, persönlich. Wer „68er“ wurde, weil er dadurch bequem vor der schmerzhaften Verstrickung der eigenen Sippe davonlaufen konnte, muss sich wohl bis heute von monströsen „Nazis“ umzingelt sehen statt von fehlbaren Menschen. Und kann natürlich unmöglich zum selben Haufen gehören wie all diese Monster. Die Kinder der 68er haben die Methode des Wegwünschens einfach übernommen. Je weniger – notwendigerweise auch schmerzhafte – Auseinandersetzung mit dem Eigenen, desto mehr wuchern überall Scheinriesen, Popanze, Dämonen in Naziuniformen. Bis jede Realitätshaftung verloren ist.
Zweitens – und das ist eng verwandt mit erstens – haben die Epigenetiker, die bestimmte Veränderungen unseres Erbguts entschlüsseln, einen bestürzenden Mechanismus gefunden: Ein schweres Trauma kann sich über viele Generationen hinweg im Genom reproduzieren. Der Träger des Gens reagiert dann Jahrzehnte später unbewusst auf dieselben Schrecken, dieselben Schlüsselreize, mit ganz ähnlichem Vermeidungs- oder Aggressionsverhalten. Das bedeutet: Auch noch die heutigen Kindeskinder der deutschen Kriegsgeneration sind oft traumatisiert, ohne es zu wissen – und ein Trigger wie das Wort „Volk“ löst in ihnen den Reflex aus: Tut weh, soll weggehen!
Das müssen die Erklärungen sein. Anders wäre es blanker Wahnsinn, wie ein ganzer Buchladen, eigentlich eine Bildungsstätte, auf ein unschuldiges Wort reagiert.