Das „neue Hamburg“ (Olaf Scholz, SPD) gehört den Projektentwicklern, Spekulanten und kinderlosen Designfetischisten. Ihr erstes Baudenkmal schuf sich diese Klasse mit dem Marco-Polo-Tower in der HafenCity. Acht Jahre nach Eröffnung habe ich seine wahre Symbolik verstanden: eine sozialdemokratische Verneigung vor den Wohnmaschinen der Randbezirke.

So sieht la dolce vita aus. Eines der teuersten Wohnobjekte der Hansestadt versprüht den Charme und die Betriebsamkeit eines Großparkhauses nach Büroschluss. Grauer Beton, zum Stapel geschichtet und vom Nieselregen befeuchtet. Sind da Spuren von Leben, es muss ja nicht einmal hochentwickeltes sein? Fehlanzeige, bis auf eine Kolonisierung der Fassade durch Flechten möglicherweise.

Und nein, es liegt nicht am dezemberlichen Hamburger Selbstmordwetter. Ich habe dieses Haus schon häufig bei Sonnenschein betrachtet, im Frühjahr, im Hochsommer. Es ist immer so mausetot, nur trockener. Aber jetzt, vor Weihnachten, kommt es gerade so richtig zur Geltung. Als würde die Welt der Reichen und Schönen erst jetzt den eigentlichen Unterschied zu den von uns Sterblichen bevölkerten Niederungen offenbaren: gar keinen.

Oder doch, einen vielleicht. Hier unten wird tatsächlich gewohnt, wenn auch nicht immer lustig.

Lange keine Geschichte vom Hühnermann mehr gelesen

Das Deprimierendste ist, was auf diesem Bild alles fehlt: Es gibt keine Pflanzen (außer möglicherweise die dunklen Stumpen ganz unten links), keine Tiere, keine Menschen.

Keine mit Fingerfarben gemalten Kinderbilder an den deckenhohen Fensterscheiben. Denn selbstredend gibt es gar keine Kinder, jedenfalls keine sichtbaren. Die vielleicht doch vorhandenen sind bestimmt gerade im britischen Internat oder beim immersiven Chinesischkurs in Guangzhou.

Keine brennenden Kerzen in den Fenstern, keine blinkenden Weihnachtssterne. Das wäre alles nicht mit dem Innendesign kompatibel. Oder es könnte Rückschlüsse auf den Anwesenheitsstatus der Inhaber ermöglichen, was wegen der Einbruchsgefahr nicht zu empfehlen wäre.

Keine Balkonparty mit Elektrogrill, das versteht sich ja wohl auch von selbst. Grundsätzlich gar keine Lebensgefühlsäußerung. Denn wo nichts ist, kann auch nichts geäußert werden. Aber das läuft in Hamburg sicher unter „Understatement“.

Es gab mal einen Bewohner, kurz nach der Eröffnung des Hauses 2010, der mit einem Huhn hier im Tower lebte und täglich mit dem Tier durch die HafenCity flanierte. Das fand die Presse super, denn das menschelte so schön. Wahrscheinlich beschwerte sich dann sehr bald die Hausverwaltung, pardon, die „concierge“, über Rückstände im Aufzug und Eierlegen nach 22 Uhr. Lange keine Hühnermanngeschichte mehr im Abendblatt gelesen.

Nur so als Witz am Rande: Im Jahr 2010, zur Erstvermietung, kosteten 60 Quadratmeter irgendwo ganz unten hier laut Pressebericht „1200 Euro kalt“. Har, har! Dafür bekommen Sie heute eine gleichgroße Genossenschaftswohnung im Bahrenfelder Rotklinkerblock, allerdings bei etwas Glück schon mit Müllabfuhr. Es würde mich nicht wundern, wenn es im Marco-Polo-Tower acht Jahre später eher 3000 Euro im Monat wären. Vielleicht auch mehr. Nach oben gibt es ja heute ohnehin keine Grenzen mehr. Und bei den 3,75 Millionen Euro Kaufpreis in den oberen Etagen – plus nochmal dassselbe für die Innenarchitektur natürlich – ist es ebensowenig geblieben.

Bestimmt sind alle 58 „Einheiten“ im Marco-Polo-Tower verkauft oder vermietet – aber das heißt ja nicht, dass sie auch bewohnt werden müssen. Die Eigner befinden sich vermutlich ununterbrochen auf Geschäftsreise, denn die Butze will ja bezahlt werden und wird deswegen für Mondpreise tageweise bei Airbnb vertickt. Oder, am wahrscheinlichsten: Sie soll überhaupt nicht bewohnt werden, sondern ist ein Anlageobjekt. Nächstes Jahr an irgendeinen Russen oder Taiwanesen weiterverschachern, 30 Prozent Plus einstreichen. Da sollte das „Objekt“ vorher nicht runtergerockt werden durch so etwas Unberechenbares wie Menschen.

Das „Objekt“ sollte nicht runtergerockt weden durch etwas so Unberechenbares wie Menschen

Man könnte nun, als einer dieser Phantom-Besitzer, natürlich einfach mal probeweise die Phantom-Wohnung betreten, seinen marineblauen Maßanzug zuknöpfen, das markante Kinn vorrecken und sich eine Stunde lang sinnend ans Südfenster des 15. Stockwerks stellen, während unten auf dem Strom die Containerschiffe vorbeiziehen. Dabei könnte man den freistehenden Designfernseher von Bang & Olufsen streicheln und ihn anstelle des nie geborenen Sohnemanns väterlich ins Vertrauen ziehen: „Das alles, mein Junge, wird eines Tages mal dir gehören.“

Danach würde man sich dann, für sich selbst überraschend, in einem Weinkrampf schütteln, während 40 Meter tiefer die graue Elbe lockt. Vor allem auch, weil die eigene Phantom-Wohnung gar nicht mehr die teuerste ist: Die liegt inzwischen in der benachbarten Elbphilharmonie und kostet, so schätzt mal wieder das Revolverblatt MoPo, zehn Millionen.

In Summe ist doch zumindest eines herzerwärmend: Unsere schöne Hansestadt, deren Ex-Bürgermeister längst von weiteren, dann aber 230 Meter hohen, schneeweißen Wohntürmen am Elbufer des „neuen Hamburgs“ träumt, bleibt die gute, alte, sozialdemokratische Gleichmacherin. Mit ihrem legendärem Schietwetter und ihrer unverbrüchlichen Liebe zum Beton schafft sie es zuverlässig, das Wohn-Erlebnis der sogenannten Elite auf das Niveau der Hamburger Banlieue zu drücken.

Egalité, dein Name ist Marco Polo.