Oft ist das Gutgemeinte der Feind des realisierbar Guten. Und manchmal illustriert schon die Bebilderung des Gutgemeinten ungewollt den Grund dafür. Etwa eine Infografik, die für „Inklusion“ wirbt.
Die Darstellung stammt von einem deutschen Sozialverband, der den vermeintlich evolutionären, humanen und daher politisch zwingend gebotenen „Prozess der Inklusion“ ins Bild setzen wollte. Inklusion ist in der Sprache der Wohlmeinenden ein relativ neues Wunschziel, welches die zuvor als Idealzustand angesehene „Integration“ noch übertrumpft: Menschen, die vorher aufgrund bestimmter Merkmale wie Behinderung, Lernschwäche oder sozialem Status von bestimmten Aspekten der Teilhabe ausgeschlossen blieben, gehören nun endlich voll und ganz und unumkehrbar zu „uns“, der nicht hilfebedürftigen Mehrheit.
Wie gelangt man in dieses Stadium? Siehe oben: über vier Stufen. Anfangs steht da die brutale „Exklusion“, also die Ausgrenzung. Die darf nicht sein. Niemand darf aufgrund keines jemals nur denkbaren Merkmals aus der Gemeinschaft der Träger eines anderen sozialen Merkmals ausgegrenzt werden, so das Wunschbild. Denn da müsste diese Gemeinschaft sich moralisch schuldig fühlen bzw. tut das bereits kräftig. Zumindest eine Gruppe Gleichgesinnter, die für die Mehrheit zu sprechen vorgibt, stellt diese Schuld(-gefühle) fest.
Vier Schritte bis zum Paradies
Doch bis zum erhofften Endzustand es ist ein langer Weg, wie die Grafik zeigt. Da sieht es im zweiten Schritt bzw. Bild noch nicht wesentlich besser aus: Die Noch-Einheitsgesellschaft hat die bislang in völliger Vereinzelung Ausgegrenzten jetzt erst einmal „separiert“, also jenseits ihres eigenen Zauns zusammengefasst.
Im Schulwesen etwa wäre dieser Separationszustand so etwas wie eine Förderschule. In die gingen diejenigen, die besonders zwendungsbedürftig wären und die unauffällige Mehrheitsgruppe in ihrer Lernentwicklung beeinträchtigen würden, fänden sie Einlass in deren Schulen.
Das geht aber auch nicht. Niemanden am Wegesrand zurücklassen, heißt die Devise. (Wobei die Förderschule ja gerade den nicht zu verachtenden Fortschritt gegenüber Stufe 1 verkörperte, dass die Bedürftigen nun kollektiv gefördert und eben nicht zurückgelassen würden. Während die nicht Förderbedürftigen weiter ihr Ding machten. Reicht nicht. Schuldgefühle. Alle müssen alles können und dürfen, alle gleich schnell, alle gleich viel. Behindert ist man nicht, behindert wird man. Von Menschen. Im Bild 2 von den roten Menschen.)
Also Stufe und Bild 3: „Integration“. Jetzt sind die bislang Ausgegrenzten immerhin in unserer Mitte angekommen – und selbst der (kulturelle) Zaun um sie herum wird schon durchlässig. Ein blaues und ein grünes MännWeiblein sind sogar schon durch dessen Lücken geschlüpft, weil sie noch integrationsbereiter oder -fähiger waren als die anderen Integrierten.
Reicht nicht, reicht immer noch nicht. Denn der verdammte Zaun muss ganz und gar weg. Zäune und Grenzen sind immer verkehrt, sind nicht nur Symbol für Gewalt, sondern sind die Gewalt selbst. Auch durchlässige Zäune und Grenzen grenzen aus – gehe zurück auf Los!
Oder gehe den letzten, konsequenten Schritt: den Schritt zur „Inklusion“. Jetzt erst, auf Stufe 4, ist das Ideal tatsächlich erreicht. Plötzlich gibt es gar keine Binnengrenzen und keine Mehrheitsgesellschaft mehr, die sich die Arroganz anmaßen könnte, ihre Minderheit(en) nach Gusto zu integrieren. Draußen vor der Tür steht auch niemand mehr. Jetzt ist eine Mischung erreicht, in der Mehrheit und Minderheit gar nicht mehr definiert werden. Jetzt erst sind alle gleich gut (oder schlecht), alle gleich schnell (oder langsam), alle gleich stark (oder schwach).
Die soziale Preisfrage
Nun aber die große Frage: Was ist faul im endlich erlangten Paradies? Schauen Sie sich dazu nur die Grafik an. Und nehmen Sie sie versuchsweise exakt beim Wort bzw. Bild.
Gefunden?
Am Anfang sind 17 Rote in der Gruppe der bösen Exklusivgesellschaft. Im Endzustand der Inklusion sind da nur noch 14 Rote.
Drei Rote sind rausgeflogen. Oder gar tot, denn sie tauchen nicht mal mehr als Ausgestoßene auf. Obwohl sie doch über ihren Schatten gesprungen sind, Herzen und Grenzen geöffnet haben. (Im zweitbesten Zustand der Integration sind sogar nur zehn übrig, da haben also gleich sieben Rote ihren Platz im sozialen Ganzen verloren.)
Und die Grafik liefert unfreiwillig auch gleich den Grund dafür mit: Der kreisförmige Spielraum (symbolisch für alle benötigten Ressourcen) ist ja nicht gewachsen. Er ist nur jetzt an den Rändern arg zerbeult, vor lauter Spannung wahrscheinlich. Es passten zeichnerisch einfach nicht alle anfangs vorhandenen Figuren hinein. Übertragen auf soziale Vorgänge in der Realität heißt das aber: Der entbrannte Verteilungskampf hat dazu geführt, dass die schwächsten Roten das Feld räumen mussten. Alle Bunten aus Bild 3, und sogar noch einige mehr, haben ja ihren neuen Platz behauptet.
Wenn man nicht bereit oder in der Lage ist, dem neuen System zusätzliche Ressourcen wie Platz, Geld oder Logistik zur Verfügung zu stellen, wenn man keine nachvollziehbare Verteilungsgerechtigkeit wahrt und wenn das Gesamtspielfeld nicht mitwächst – dann ist diese darwinistische Verdrängung die unausweichliche Konsequenz des versuchten Einschlusses aller in alles. Denn „Zusammenrücken“ oder „Solidarität“ allein reicht nicht aus, um die gestiegene Komplexität und die dadurch verursachten negativen Effekte für alle zu kompensieren.
Sehr gut zu beobachten beispielsweise im Hamburger Schulsystem: Der Druck im Kessel, die Reibungen und Spannungen nehmen zu. Die Konkurrenz um den gleichbleibenden Platz, um die gleichbleibende Zuwendungsmöglichkeit wird rabiat. Der soziale Stress steigt, die Leistungsfähigkeit des Ganzen sinkt drastisch, für die Altgruppe ebenso wie für die neu Inkludierten. Das alles gilt genauso im Gesundheitswesen, wie jeder weiß, der zuletzt mal als Patient in der Notaufnahme eines Krankenhauses war. Und in allen anderen Sozialsystemen einer Gesellschaft, die auf diese Weise unter Druck gerät.
Nur ein Trick bewahrt den schönen Schein
Die Grafik bringt das durch die klammheimliche Streichung einiger roter Figuren auf den Punkt, weil sie das vermeintliche Inklusions-Paradies nur mit diesem Trick ins Bild setzen kann. So erst reichen die vorhandenen Mittel auf magische Weise für alle. Niemand rückt dem anderen derart auf die Pelle, dass es knirscht und kracht. Und die Grafikdesignerin bekommt ihre Figuren problemlos auf dem Spielfeld untergebracht.
Aber nur, weil die drei bzw. sogar sieben armen Würstchen nun leider fehlen. Unerklärt, unbegründet, einfach unterschlagen. Da sie jedoch zur früheren – schuldbeladenen – Mehrheitsgesellschaft der Ausgrenzer gehört haben, scheint dieser Endzustand offenbar hinnehmbar zu sein. Weil es ja nicht die Falschen trifft? Weil die Rausgeflogenen sich halt nicht gegen den Fortschritt stellen oder auf die Wahrung ihrer Rechte und Ansprüche hätten hoffen sollen?
So geht „inkludierende“ Sozialpolitik in Deutschland heute. Ihre Opfer und ihre negativen Folgen werden unterschlagen und ausgeblendet. Die vermeintlich fortschrittliche Moral ist im Überfluss vorhanden, die benötigten Ressourcen und der praktische Verstand hingegen bei weitem nicht. Erreicht wird das krasse Gegenteil des Gewollten: sinkendes Leistungs- und Versorgungsniveau, verschärfter Verteilungskampf, Entsolidarisierung und neue Ausgrenzung. Doch das fünfte Bild, das diesen Zustand zeigt, fehlt in der Grafik.
Sie mögen denken: Da zeigt sich wieder die herzlose Welt der Ökonomen, die nur Zahlenkolonnen vor Augen haben, wo sie doch die Menschen sehen sollten. Leider jedoch ist das Betrachten großer Aggregate – also eine Sicht, die über individuelle Schicksale hinausweist – unverzichtbar, wenn man ganze Gesellschaften in bessere Bahnen lenken will.
Ihren Schwächsten muss eine Solidargemeinschaft helfen. Aber wo sie die dazu notwendigen Ressourcen nicht bereitzustellen versteht, muss sie von „Inklusions“-Experimenten Abstand nehmen. Statt mit irreführenden Kampagnen Scheinlösungen zu suggerieren, die alles für alle verschlimmbessern.
Deine Erkenntnis hat sich ja in NRW bei der letzten Wahl durchgesetzt. Die misslungene, weil nicht mit genug Mitteln ausgestattete Inklusion in der Bildung hat Frau Kraft das Amt gekostet. Das Logo kenn ich gut. Ich habe fünf Jahre lang an der Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention mitgearbeitet und die Lehre war: Alles schön und gut, aber es darf keinen Cent mehr kosten, zumindest nicht die Städte und Gemeinden. In all der Zeit der Erbsenzählerei wäre ich aber nie auf die Idee gekommen, die Figuren zu zählen Sehr lustig, deine Arithmetik.
Danke, aber ich finde die überhaupt nicht lustig, sondern tieftraurig und schwer beunruhigend. Ich wollte auch gar nicht zählen, aber der alte Volkswirt-Blick lässt sich leider nicht abschalten. In unserer Gesellschaft ist die alte Tugend des Erbsenzählens – für die wir mal berühmt/berüchtigt waren – leider total diskreditiert. Könnte viele dramatische Fehlentscheidungen im Ansatz verhindern. Aber Politik wird jetzt nur noch aus dem Bauch gemacht.