Der Kniefall hat Konjunktur: Demonstranten, Aktivisten und Fußballstars drängt es in Sachen George Floyd zur politreligiösen Demutsbezeugung. Selbst im hüftsteifen Deutschland gibt es beste Haltungsnoten für die Unterwerfungsgeste. Doch was drückt sie wirklich aus?

In St. Louis, Missouri, sinkt bei einer Kundgebung gegen Polizeigewalt im Fall George Floyd ein einzelner schwarzer Demonstrant auf die Knie – zwei Meter vor einer Phalanx überwiegend weißer Einsatzpolizisten mit Helmen und Schilden. Er verschränkt dabei die Hände hinter dem Genick, senkt aber nicht den Kopf. Das Foto geht durch die Weltpresse.

Eine Woche nach der tödlichen Misshandlung Floyds durch einen weißen Polizisten knien alle Spieler des FC Liverpool, ob weiß oder dunkelhäutig, beim Training im Mittelkreis des Spielfelds, um sich mit den Demonstranten in den USA zu solidarisieren.

In der Bundesliga beugen wenige Tage später mehrere schwarze Spieler das Knie vor laufenden Kameras, nach einer weiteren Woche ganze Clubs. Der Mönchengladbacher Thuram feiert auf diese ungewöhnliche Weise gar seinen Treffer zum 2:0 gegen Union Berlin. Sein Trainer Marco Rose beeilt sich hinterher zu versichern: „Er hat ein Zeichen gegen Rassismus gesetzt, was wir natürlich alle komplett unterstützen.“ Und der Club twittert auf Englisch unter dem Foto des Kniefalls: „Keine Erklärung erforderlich.“

Wirklich nicht? Was ist plötzlich so selbstverständlich an einem Kniefall im Strafraum des Gegners, um auf mehr als 5.000 Kilometer entfernte Gewalttaten hinzuweisen? Welcher politische Sog hat Prominente ebenso wie Unbekannte erfasst, dass sie ausgerechnet zu einer selbsterniedrigenden Geste Zuflucht nehmen, um das genaue Gegenteil kundzutun, nämlich das Ende der Hinnahmebereitschaft?

Eine Geste geht viral

So irritierend sie ist, so ansteckend scheint die Geste, die sich in Windeseile zur Pandemie verbreitet. In Ottawa kniete am Freitag Kanadas Premierminister Justin Trudeau vor Tausenden Demonstranten minutenlang nieder. In Hamburg versammelten sich fast zeitgleich laut Polizeiangaben, den Corona-Beschränkungen zum Trotz, rund 4.500 Demonstranten vor dem US-Konsulat. Etliche der vielfach noch jugendlichen und überwiegend weißen Teilnehmer, so die Polizei, knieten nach Art ihrer Vorkämpfer auf offener Straße.

Wovor deutsche Teens und Twens da in den Staub sinken, wissen viele vermutlich selber nicht so genau. Ihrer neuen Sehnsucht nach politreligiösen Symbolen aber kommt entgegen, dass sich das Beugen weißer Knie als Reue für eine vermeintliche weiße Kollektiv- und Erbschuld an Kolonialismus und Sklavenhandel interpretieren lässt – wobei sich die Protestierer selbst natürlich automatisch exkulpiert wissen. Sie demonstrieren sozusagen intergenerationelle Bußfertigkeit: stellvertretend für die Schurken vergangener Jahrhunderte. Was sie nicht davon abhält, gleichzeitig mit großer Aggressivität gegenüber fortbestehenden „rassistischen Strukturen“ aufzutreten, wie es ihre schwarzen Widerstandsikonen tun.

Das Niederknien nicht als Zeichen der Unterordnung oder Demut, sondern als Pose des moralisch überhöhten Widerstands hat erst eine kurze Historie. Es war der dunkelhäutige Quarterback der San Francisco 49ers, Colin Kaepernick, der das Knien als Protestform gegen Rassismus und Polizeigewalt gegen Schwarze 2016 einführte. Während der Nationalhymne vor einem Spiel stand er nicht, wie seine Mannschaftskameraden, sondern „took a knee“, wie es auf Englisch heißt. Andere Football-Spieler schlossen sich in den folgenden Wochen und Monaten an. In einem Tweet forderte Präsident Donald Trump schließlich 2017, wer bei der Hymne nicht stehe, gehöre gefeuert. Damit war die Geste im linksliberalen Lager der USA endgültig salonfähig geworden.

Den hüftsteifen Deutschen hingegen ist die dramatische Demutsgebärde immer fremd geblieben, auch wenn Heinrich IV im Jahr 1077 mehrere Tage lang kniend beim Papst in Canossa um Einlass bat. Die Fremdscham, die ein Kniefall hierzulande etwa beim Ansehen von YouTube-Videos melodramatischer Heiratsanträge im Staub einer Straßenkreuzung auslöst, entsteht auch durch andere forcierte Gefühlsbekundungen unter Einsatz der Extremitäten. Helmut Kohl und Francois Mitterand mussten das erfahren, als sie 1984 minutenlang wie Stockpuppen Hand in Hand auf dem Schlachtfeld von Verdun verharrten.

Als der Kanzler kniete

Ein einziger Fall im Sinne des Wortes ist als große Geste in die deutsche Geschichte eingegangen: derjenige von Warschau. Als Bundeskanzler Willy Brandt am 7. Dezember 1970 nach der Kranzniederlegung am Warschauer Ehrenmal für die Toten des jüdischen Ghettos auf beide Knie sank, verstummte selbst die sonst so zynische und lästernde Meute der mitgereisten Reporter und Pressefotografen. „Er kniet!“, habe einer von ihnen nur perplex geflüstert, erinnert sich Egon Bahr in seiner Autobiographie.

Mit einem Schlag spaltete der halbspontane Akt die westdeutsche Nachkriegs-Nation. Laut Spiegel-Umfrage (Frage: “Durfte Brandt knien?”) hielten damals 48 Prozent die Symbolhandlung für überzogen, angemessen fanden sie 41 Prozent. Um so nachhaltiger beeindruckte der Kniefall von Warschau die polnischen Gastgeber des SPD-Kanzlers, „meinten sie doch, deutsches Verhalten zu kennen; dieses war ihnen neu“. So notierte Brandts Vertrauter und Redenschreiber Günter Grass fünf Tage nach dem Ereignis.

Die Geste, mit der Brandt als deutscher Politiker schuldlos die Schuld der deutschen Täter verkörperte, oszillierte im politischen Nervensystem des geteilten Kontinents mit hoher Frequenz fort, ohne indes inflationär wiederholt zu werden. Sie taute das vermeintlich ewige Eis der Kriegsfeindschaft an und nährte das Vertrauen, mit dem die „neue Ostpolitik“ gegenseitiger Anerkennung und Annäherung überhaupt erst dauerhaft wirksam wurde.

Ganz in der Nähe des Ehrenmals erinnert seit dem Jahr 2000 ein Backstein-Denkmal mit einer Bronzetafel der polnischen Bildhauerin Wiktoria Czechowska-Antoniewska an den Kniefall. Es steht auf dem Skwer Willy’ego Brandta, dem Willy-Brandt-Platz. Selbst eine Oper wurde dem Kniefall von Warschau gewidmet.

Dass dieser Trauerbezeugung eines Einzelnen eine solche Kraft innewohnte, den Kniefällen der vielen 50 Jahre später aber ein überaus schaler Beigeschmack anhaftet, liegt an einigen gewichtigen Unterschieden. Erstens war es im Dezember 1970 gerade das Improvisierte, nicht Orchestrierte, Unerwartete: Ich hatte nichts geplant, aber Schloss Wilanow, wo ich untergebracht war, in dem Gefühl verlassen, die Besonderheit des Gedenkens am Ghetto-Monument zum Ausdruck bringen zu müssen“, schrieb Brandt in seinen 1989 erschienenen Erinnerungen. „Am Abgrund der deutschen Geschichte und unter der Last der Millionen Ermordeten tat ich, was Menschen tun, wenn die Sprache versagt.“

Zweitens korrespondierte die Würde der Geste mit der Würde des Amtes. Nur Hochgestellten steht es an, sich aus freien Stücken zu erniedrigen. Bei allen anderen, ob Straßendemonstranten oder Popkultur-Prominenten, liegt der Verdacht einer Anmaßung nahe – oder einer Zwangshandlung, animiert vom Gruppendruck.

Von diesem Verdacht war der erste sozialdemokratische Kanzler frei. Noch 2014 erklärte Navid Kermani, deutscher Schriftsteller iranischer Abstammung, während der Feierstunde zum 65. Jubiläum des Grundgesetzes im Bundestag: „Wenn ich einen einzelnen Tag, ein einzelnes Ereignis, eine einzige Geste benennen wollte, für die in der deutschen Nachkriegsgeschichte das Wort ‚Würde‘ angezeigt scheint, dann war es […] der Kniefall von Warschau.“

Drittens agierte hier ein einzelner Mensch, im Zwiegespräch nur mit seinem Gewissen, wenn auch auf der Bühne der Weltöffentlichkeit. Brandt verließ sich 1970 ausschließlich auf sein Gespür. Warum Brandts Geste eine solche Wirkung entfaltete, erklärte eigentlich ein einzelner Satz in der Spiegel-Titelgeschichte von 1970: „Er hat das Knien, von Haus aus, gar nicht im Repertoire.“ Die Geste stand singulär, in Brandts Leben und überhaupt. Niemand wäre auf die Idee gekommen, sie nachzuahmen.

Knie beugen macht unbeugsam

Genau das unterscheidet sie so gründlich von den Massenkniefällen im Namen von „Black Lives Matter“ 2020: Wer sich daran beteiligt, orientiert sich an den populären Vorknieern auf Instagram, und übernimmt deren Pose wie ein Logo.

Als die Fußballer des FC Liverpool geschlossen auf die Knie gefallen waren, taten es ihnen zunächst die Kollegen vom Londoner FC Chelsea ebenso vollzählig nach. Einer von ihnen, der schwarze deutsche Nationalspieler Antonio Rüdiger, kommentierte das Beweisfoto des Events: „Gemeinsam sind wir stärker.“

Wer kollektiv auf die Knie fällt, wird also in Wahrheit erhöht. Das erinnert an die ultimative Unterwerfungsgeste, mit der Katholiken das Knie vor Gott beugen und Muslime sich beim Freitagsgebet vor Allah in den Staub werfen. Auch hier, wie in den neuen Polit-Religionen, geht es um die stärkende, synchronisierende und hypnotisierende Kraft des massenweisen Gleichtuns. Indem man sich öffentlich allein der göttlichen Instanz unterwirft, erhebt man sich zugleich moralisch über weltliche Widersacher oder gar Glaubensfeinde: Selbsterhöhung durch Selbsterniedrigung. Eine durchaus passiv-aggressive Geste.

Diese „Umwertung aller Werte“ prangerte schon Nietzsche im Religiösen an: Indem der Gläubige sich als opferfreudig und leidensbereit inszeniere, entziehe er unverfälschter Stärke und Lebendigkeit das Existenzrecht. Für Nietzsche war dies der Inbegriff von Scheinheiligkeit: Gerade diejenigen, die in demonstrativer Sanftmut auch noch die andere Wange hinhielten, würden in Wahrheit am meisten von Hass und Verbitterung verzehrt. Gerade die, die doch vorbildlich auf die Knie fielen, wünschten den Verweigerern des Rituals im Stillen Höllenstrafen an den Hals.

Mittlerweile gibt es auch erweiterte Varianten der öffentlich inszenierten Erniedrigung. Weiße Millienials aus der Mittelschicht filmen sich beispielsweise gegenseitig dabei, wie sie auf der Straße die Schuhe von Dunkelhäutigen küssen. Das hilft zwar keinem einzigen Schwarzen, weder gegen tatsächlichen Rassismus noch gegen die Gewalt des Protest-Mobs, dem Weiße und Schwarze zum Opfer fallen. Aber es scheint die Schuhküsser tief zu befriedigen.

Darin besteht die Dialektik der neuen Kniefälle: Nicht jeder, der kniet, tut das aus inneren Gründen. Und nicht jeder Ungebeugte ist ein Rassist.


Dieser Beitrag erschien ursprünglich auf Publico.