Das „vereinigte“ Europa stolpert und murkst in trauter Zerstrittenheit vor sich hin. Einig sind sich die EU-Granden nur im anschwellenden Kriegsgeschrei gegen Russland. Was könnte dahinter stecken?

Das „Einigungsprojekt“ EU strauchelt von Blamage zu Blamage, von größenwahnsinnigen Ankündigungen über immer leerere Worthülsen zu steten Bauchlandungen. Was der EU und ihren Apologeten – trotz einer Flut von Büchern zur „europäischen Identität“ – völlig abgeht: eine tragfähige und populäre Einigungs-Erzählung, eine Antwort auf die Frage, die US-Vizepräsident J.D. Vance den EUropäern im Februar 2025 auf der NATO-Sicherheitskonferenz in München gestellt hat: Wer seid ihr, und wo wollt ihr hin?

Dabei fehlt es den „glühenden Europäern“, wie sich die EU-Eliten und ihre Claqueure so gerne nennen, nicht an Projekten, die für das Europa der Zukunft stehen sollen. Einige Beispiele für Anspruch und Wirklichkeit:

Das hypermoralische Dogma des „Wertewestens“, das sich die offizielle EU vollum­fänglich zu eigen gemacht hat, die Wokeness, wird gerade vom ameri­kanischen Hegemon zertrümmert – also dort abgewickelt, wo es herkam. Als Identifikationsanker für 450 Millionen EU-Bürger und gar mehr als 700 Millionen Gesamteuropäer in vielfältigsten Völkern und eigenwilligen Regionen – vom Baskenland bis Korsika – hat sich dieses Spaltungsprodukt ohnehin nie geeignet.

Für die wertewestlich-liberalistische Doktrin stehen immer wiederkehrende, jämmerliche Identitätsstiftungsversuche mittels pauschalen Schlagwörtern wie „Freiheit, Demokratie, Gleichheit und Rechtsstaatlichkeit“ (Präambel einer Verfassung für Europa von 2004), wahlweise auch: „Menschenrechte, Liberalismus, Rechtsstaat“. Alle sind sie mit Ansage gescheitert, weil man das einzige über Jahrhunderte für das Abendland charakteristische Merk­mal, das Christentum, komplett ausblenden will.

Visionen ohne Erdung

Was konkrete Zielvorgaben anbelangt, die von der EU ausgerufen wurden: Der Green Deal, der nach dem Willen von Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen Europa zum grünen Klimaschutz-Vorzeigekontinent machen sollte, ist in Abwicklung. Allerorten – nun sogar im Klimaneutralitäts­musterland durch Kanzler Merz und Lokalpolitiker wie M. Söder – wird an den wesentlichen Eckpfeilern gesägt, etwa am Verbrenner-Aus für 2035. Andere Rammböcke für eine grüne Zukunft ohne wettbewerbsfähige Wirtschaft, wie das turbobürokratische Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz, sind ebenfalls schwer unter Beschuss geraten.

Was als ambitionierter Versuch begann, ein Alleinstellungsmerkmal im Deutungskampf der multipolaren Welt zu gewinnen, was die Europäer im Zeichen der Zukunft zusammenführen sollte, hat das Gegenteil erreicht: Es hat im Innern die Spaltung vertieft und nach außen abschreckend gewirkt. Statt Nachahmer zu finden, wie erhofft, wurde der Green Deal zum Menetekel, wie man es keinesfalls machen sollte. Eu­ropa begehe industriellen Selbstmord, kommentierte Ineos-CEO Andrew Currie jüngst anlässlich der Schließung zweier Werke in Deutschland. Selbst im Land des eingeschränkten Denkkorridors gärt es: Der Verband der Chemischen Industrie warnt vor einem „Flächenbrand“, wenn „Monsterbürokratie“ und hohe Energiekosten die Wettbewerbsfähigkeit weiter zerstören.

Und abseits der Zukunftsvisionen? Hält die europäische Gemeinschaft in den Mühen der tagespolitischen Ebenen zusammen? Mitnichten, wie die notorische Uneinigkeit in der Migrationspolitik belegt; oder die Eigen­brötlerei, mit der Digitalisierung an Schulen in einem Land vorangetrieben und in anderen rückgängig gemacht wird – alles trennt, statt Gemeinsam­keit zu demonstrieren.

„Was die Europäer im Zeichen der Zukunft zusammenführen sollte, hat das Gegenteil erreicht: Es hat im Innern die Spaltung vertieft und nach außen abschreckend gewirkt.“

Zuletzt: Hat wenigstens Corona die EU zeitweilig zusammengeschweißt? Auch hier war Einigkeit Fehlanzeige. Jedes Mitgliedsland hat gemacht, was es wollte, etwa ohne Rücksicht auf das verbindliche Schengen-Abkommen Grenzen geschlossen; eine einheitliche Maßnahmenpolitik gab es in der EU ohnehin zu keinem Zeitpunkt der „Pandemie“. Von einer Harmonisierung, wie es die EU einst versprach, auch sonst nirgendwo eine Spur – es sei denn in den alles erdrückenden bürokratisch-technokratischen Vorschriftengebirgen, die Brüssel wie am Fließband ausheckt.

Das Neueste: eine EU-Entwaldungsrichtline. Alles, was im Entferntesten mit Holz zu tun hat, also nicht nur jeder Schreiner, der eine Tür oder einen Stuhl anfertigt, sondern auch jeder Bäcker, der auch Kaffee anbietet, jede Vegan-Bude, die Soja auf den Teller bringt – sie alle müssen nachweisen, dass sie nichts verkaufen, was gewachsen ist, wo nach 2020 entwaldet wurde. Es herrscht nun „lückenlose Berichterstattung über die gesamte Wertschöpfungskette“.

Bei ihrer händeringenden Suche nach einem Daseinszweck des EU-Projekts stellen sich die Händeringer die naheliegende Frage nie: Warum hat man die Europäische Gemeinschaft nicht schlicht in ihrer bewährten Form einer Wirtschaftsunion belassen? Warum auch noch eine Währungsunion, der die meisten Mitgliedländer gar nicht folgen können? Warum alle möglichen Ideologie-Zwangsjacken, die bloß die Wirtschaft Europas schwächen, statt mit den vorhandenen Pfunden zu wuchern?

Bedeutungsverlust – was nun?

Fast wie eine Litanei lesen sich die Schlagzeilen der letzten Jahre und Monate, die – von allen Seiten des politischen Spektrums aus – der EU nicht nur ein verheerendes Zeugnis ausstellen, sondern immer offener von der Möglichkeit des Scheiterns unken: „Europa am Abgrund“ (Telepolis), ein „Kontinent im Niedergang“ (NZZ), der „unregierbar“ wird (Finanzmarktwelt), ein Epochenbruch, der „ohne Europa“ stattfindet (NachDenkSeiten), weil sich „die EU selbst verzwergt“ (Handelsblatt). Europa, pardon: die EU, als „Klub aus Nachfolgern gede­mütigter Imperien“ (Peter Sloterdijk). Und definitive Abgesänge: „Die Eu­ropäische Union ist kaputt“ (Yanis Varoufakis von linksaußen in Jacobin).

Ein anderer hofft noch – und fragt deshalb besorgt: „Scheitert Europa?“ Der Fragesteller: Josef Janning, der Schauplatz: das Magazin Internationale Politik. Unter vielen Defiziten wie zu wenig politischer Handlungsfähigkeit betont Jannig das Fehlen gemein­samer Verteidigungspolitik und integrierter Streitkräfte. Erstmals er­scheine „Scheitern und Zerfall der Europäischen Union als realistisches Szenario“. Mit anderen Worten diagnostiziert der Politikberater mit dem Spezial­gebiet EU dasselbe wie Vance: dass die EU-Granden nicht mehr wüssten, „wohin Europas Union führen soll“.

Wo überall drückt der Schuh? Janning, Mitdenker einer Denkfabrik für Europäische Zukunftsfragen, zählt auf: Zunächst mangele es an einer zündenden Integrationsidee, die ebenso wenig erkennbar sei wie längerfristige Zielbilder. Sodann am Fehlen von „Gestaltungskoalitionen“, an deren Stelle eine stark gewachsene Hetero­genität der Interessen getreten sei. Drittens krankt es am „Souveränismus“, soll heißen: Die Rechte mit ihrem Pochen auf souveräne Nationalstaaten ist laut Janning schuld am Zustand der EU; zudem schürten diese Kreise „populistisch verstärktes Unbehagen“ an einer „Entgrenzung“, die natürlich erstrebenswert sei. Und schließlich störe – na? – Trump. Denn der betreibe zum wirtschaftlichen Vorteil der USA eine Spaltung und Schwächung der EU. Ob das europäische Einigungsprojekt dennoch das Jahr 2040 erleben werde, fragt Janning bang. Seine Antwort: möglich, wenn „ein Aufbruch zur politi­schen Union“ gewagt würde, „mehr Europa“ – EU-Verteidigungsunion inklusive.

Als Gipfel des Größenwahns brandmarkte Nigel Farage schon im Februar 2020 bei seiner Rede im EU-Parlament anlässlich des Brexit-Vollzugs, in Richtung Ursula von der Leyens gesprochen: „Now you even want your own army!“. Damals hatte das wenig Wahrscheinlichkeit, durchsetzbar zu sein. Mit „Putins An­griffskrieg“ (so die polit-mediale Stanze) sollte sich dies zwei Jahre später drastisch ändern. Und wenn es alle schon gesagt haben, sagt es eben Friedrich Merz auch: Europa müsse seine Sicherheit selbst garantieren.

Ein Kriegsprojekt als Lösung

Wenn man keine positive Idee vom Eigenen hat, muss wenigstens ein gemeinsamer Feind her. „Rechts“ soll nach Lesart der EU-Granden der Popanz stehen, gegen den man vereint kämpft. Doch oh weh: In vielen Mitgliedsstaaten wählt der Souverän rechts, also wird dort auch rechts regiert: Ungarn, bislang Italien, zeitweise und jetzt wieder bei der Präsidentenwahl Polen, Tschechien; auch in der Slowakei, wo ein „russlandfreundlicher“ Premier amtiert, wurde zuletzt nicht der „prowestliche“ Kandidat Präsident. Alleine schon die Formulierung „prowestlich“ verrät, wie wenig die so formulierenden ZDF-Redakteure begreifen, dass EUropa nicht nur aus den wertewest­lichen Zentren Brüssel, Berlin und Paris besteht, sondern auch einen Süden, Norden und – in vielem völlig anders tickenden – Osten hat.

Nichtsdestotrotz verlaufen die Weichenstellungen in der EU so, dass ein Feindbild Russland unverrückbar im Zentrum allen Denkens zu stehen hat. Bei ihrer Anhörung als nominierte EU-Außenkommissarin forderte die Estin Kaja Kallas im Sommer 2024, Russland müsse „seinen letzten Kolonialkrieg verlieren“. Nach dieser Niederlage, so Kallas wenige Monate später und nun im Amt, wünsche sie sich „mehrere kleine Nationen“ an Stelle Russlands: „Es wäre nicht schlecht, wenn die Großmacht kleiner wäre.“

Man rüstet in Brüssel aber nicht nur verbal auf. Der ungarische Präsident Victor Orban kritisiert, dass sich die EU benähme, als wäre sie ein Kriegs­projekt. Ein geopolitischer Analyst auf Substack mit dem Pseudonym Simplicius vermutet, hinter der Verwandlung der EU in einen militärischen Block mit dem einzigen Ziel die Nieder­lage Russlands stehe der Plan, „die EU-Vasallen in einen ‚point-of-no-return’ zu zwingen“.

Die EU-Eliten, die verzweifelt einen Identifikationsanker für ihr „europäisches Projekt“ suchen und nicht finden, sind offenkundig auf die Idee verfallen, die Konfrontation mit Russland auf die Spitze zu treiben, um endlich einen mobilisierenden Mythos in Händen zu halten: Wir, das gute Europa, gegen das Reich des Bösen, das uns bedroht. Die Hoffnung hinter diesem Kalkül: Wenn „wir“ die Herausforderung gemeinsam bestehen, wird dies der identitätsstiftende Funke für die „Finalisierung“ des „europäischen Prozesses“ sein, im Klartext: für den Endsieg von No Nation, No Border. Die finale, endgültige Form der EU wären, wenn die Maximalisten sich durch­setzten, die Vereinigten Staaten von Europa. Auch die Diskussion darüber, wo die geografischen und kulturellen Grenzen Europas verlaufen, wäre entschieden – und Russland der erste Feind außerhalb. Was die bedin­gungslosen Ukraine-Unterstützer noch nie auch nur versucht haben zu erklären: warum die Ukraine wesentlich zu Europa gehören soll, Russland aber nicht.

Die EU in der Dauerkrise – muss also nun die ultimative Brechstange her, ein Krieg? Oder zumindest die marktschreierische Aufrüstung dafür? Könnte ein Grund für die Hysterie sein, dass die ukraini­schen Linien an mehreren Fronten zusammenbrechen, wie es selbst ukrainische Analysten heute einräumen?

Auch die Einflusslosigkeit der EU, die man zumindest ahnt, wenn man sie nicht gleich für harte Realität hält, führt zur Kopflosigkeit in den Handlungen, zementiert den Starrsinn ein­mal eingeschlagener Irrwege wie in der Russlandpolitik. Schwäche steigert bei schwachen Charakteren vor allem die Beißwut.

Ablenkungsmanöver

Was haben die beiden „Leader” in der EU, die den russophoben Kriegskurs maßgeblich vorgeben, Macron und Starmer, gemeinsam? Sie sind (innen)politisch am Ende und haben keinen Rückhalt mehr im Volk, sondern nur noch in „Unsererdemokratie“.

Emmanuel Macron: seit Jahren mehr als angezählt. In Frankreich herrscht Dauerregierungs- und Finanzkrise, die Halbwertszeit von Macrons Premier­ministern liegt inzwischen bei 27 Tagen, Tendenz fallend; Le Pen wird auf dem Weg ins Präsidentenamt vorerst nur durch die Justiz ausgebremst. Der, der schon länger im Élysée-Palast sitzt, wird von radikal links ebenso hart bedrängt wie von rechts; im Gegensatz zur rechten Opposition betreibt die Linke gar ein Amtsenthebungsverfahren.

„Auch die Einflusslosigkeit der EU führt zur Kopflosigkeit in den Handlungen, zementiert den Starrsinn ein­mal eingeschlagener Irrwege wie in der Russlandpolitik.“

Die präsidialen Spielräume sind eng geworden und dürften über den Élysée kaum mehr hinausreichen. Welche Optionen hat ein Mann, der einen selbstgefälligen Brief an die „Bürgerinnen und Bürger Europas“ schreibt, auf internationalem Parket von US-Präsident Trump aber behandelt wird wie ein Schuljunge („Sie sollten nicht hier sein“)? Was Macron als Trumpfkarte auch als König-ohne-Land im Ärmel hat und bereit ist, rücksichtslos auszuspielen: seinen formalen Status als Präsident der einzigen EU-euro­päischen Atommacht. So steht er auf dem Kontinent an der Spitze der Kriegstreiber gegen Russland.

Friedrich Merz war im Gegensatz zu Macron, der immerhin mit gewissen Vor­schusslorbeeren gestartet ist, schon lahme Ente, bevor er vereidigt wurde. Der möchtegern-konservative Kanzler von linken Gnaden versprach einen „Herbst der Reformen“; nachdem dieser tatenlos ins Land geht und das Grummeln lauter wird, versucht er sich lustlos in der Beschwörung einer „Modernisierungsagenda“ bei fortgesetztem Brandmauern – und flüchtet sich in die geliebte Rolle als „Außenkanzler“ (Fritz Goergen).

Doch daheim gewinnen die Unberührbaren ständig an Zulauf: Mit 26,5 Prozent erreichte die AfD zuletzt in den Umfragen einen Rekordwert, zwei Prozent vor der fallenden Union – und ist damit stärkste Kraft. Union und SPD erreichen gemeinsam nur noch 39 Prozent. Eine Mehrheit traue der schwarz-roten Regierung nicht zu, die wirtschaftlichen Probleme zu lösen, berichtet BILD. Politikwissenschaftler sehen im INSA-Trend ein „Warnsignal“: Viele Bürger hätten kein Vertrauen in die „Problemlösungsfähigkeit“ der Regierung. Bei der persönlichen Beliebtheit deutscher Spitzenpolitiker landet Kanzler Merz im Ranking derzeit auf Platz 18. Viel weiter runter geht es nicht mehr.

Der dritte im Bunde der Kriegsagitatoren, zwar nicht mehr für die EU sprechend, aber für die NATO: Keir Starmer – kurz vor dem Knockout.  Der britische Premier steht in den Umfragen noch schlechter da als Macron und Merz: Reform mit Nigel Farage steigt sprunghaft an, momentan auf 32 Prozent (17 mehr als bei der Wahl 2024), Starmers Labour liegt nur noch bei 20 Prozent, Tendenz: dramatisch fallend. Dieses Lagebild hat sogleich den medialen Komplex in Deutschland auf den Plan gerufen: Die ZEIT klammert sich an Starmers Durchhalteparolen (er werde „mit jedem Atemzug für das tolerante, anständige und achtungsvolle Groß­britannien kämpfen“); andere im Hauptstrom der Anständigen bringen in schierer Verzweiflung die Deportations-Lüge zur Wiedervorlage („Farage plant Deportationen“).

Angst vor dem scheinbar unaufhaltsamen Erstarken der „rechten“ Oppo­sition (AfD, Le Pen, Farage), eine beschleunigt abschmierende Wirtschaft, ein beängstigender Reformstau, miese Stimmung im Volk – Ablenkung von der Tristesse wird dringend gesucht. Was liegt näher, als durch außen­politisches Gedröhn vom Scheitern auf allen Ebenen abzulenken und zu versuchen, die jeweilige Nation durch gezieltes Herbeihysterisieren einer Gefahrenlage in einen Burgfrieden zu manövrieren?

Führer, die derart taumeln, brauchen die maximale Krisenlage, um zusammenzuhalten, was unaufhaltsam auseinanderflieht. Machtstands­wahrern, denen die Felle davonschwimmen, bleibt nur noch das Regieren in der Krise, die auf Permanenz zu stellen ist. Die Sirenentöne, die sich im Daueralarm abzunutzen drohen, müssen dabei immer schriller werden. Das Aufrüsten gegen Russland ist die ultima ratio der Krisenerzeugung, denn was könnte einen Krieg gegen eine Atommacht noch übertreffen?

Drohnenalarm – gerade rechtzeitig

Durch die Luft schwirrende Kriegs-Vibrationen gibt es im medial auf­geheizten Anti-Russland-Klima des Wertewestens schon lange. Bisher schrillten die Alarmglocken, wenn eine Wahl nicht so ausging, wie es sich die wertewestlichen EU-Eliten vorgestellt hatten. In Rumänien wurde zuletzt ein Wahlgang annulliert, weil die Wahlentscheidung der Bürger von etwas manipuliert worden sei, das der französische Präsident Macron als „russi­sche Geheimarmee in unseren Demokratien“ identifiziert hat: eine Invasion von „kleinen, gesichtslosen Krieger[n], die man digitale Bots nennt“.

Seit ein paar Wochen aber tritt die Gefahr wieder recht analog auf den Plan. Dabei kommt den Panikerzeugern real fliegendes Material zu pass: Drohnen allüberall, über Polen, Kopenhagen, London, selbst Lissabon – und neuerdings in großer Häufung auch über Deutschland. Der Urheber? Putin! Was der britische „Guardian“ in Bezug auf die angeblich Putin-gesteuerten Drohnenan­griffe auf Großbritannien als Analyse zu verkaufen versucht, ist in Wahr­heit das Wunschbild von Anti-Russland-Hysterikern: „Moscow is at war with the west” – während es im Artikel dann statt Belegen nur raunt: „were suspected”, „probably acting”.

Russland könnte auch hinter dem jüngsten Drohnenflug am Münchener Flughafen stecken, jedenfalls nach Einschätzung von Bayerns Ministerpräsident Söder. Dieser ortete etwas merkelesk eine „Form auch von hybrider Kriegsfüh­rung“, worauf – nun wieder söderesk – „ganz vernünftig, ganz cool, aber auch ganz konsequent“ reagiert werden müsse. Auch Kanzler Merz war sich bei Caren Miosga unmittelbar nach Sichtung sicher: „Wahrscheinlich wird ein wesentlicher Teil davon aus Russland gesteuert.“ Schön jedenfalls, dass dasselbe Magazin, das sich im Konjunktiv sicher ist, melden kann: „Deutschland rüstet auf“. Diese mediale Haltung erfreut Verteidigungs­minister Pistorius, der „mehr Staat“ in der Rüstungsindustrie verspricht – zur Freude letzterer, die „fast so etwas wie ‚Goldgräberstimmung’“ ver­spürt. Gemeinsame Interessen, vereinte Propaganda, eingespielte Teams.

Was diese Teams standhaft ignorieren: Die meisten Drohnenmeldungen erwiesen sich längst als Irrtümer, Missverständnisse, Fehlalarm. Ole Skambraks rechnet in der Berliner Zeitung zudem vor, dass die Zahl der Drohnenvorfälle seit 2018 konstant geblieben ist – nur die Reaktion darauf habe sich verändert. Was, wenn einige der Drohnen ukrainische False-Flag-Aktionen wären, um Europa noch mehr in den Krieg hineinzuziehen? (Was ist eigentlich bei den Ermittlungen gegen die Ukrainer herausgekom­men, die Nord Stream II gesprengt haben wollen? Ach so.)

Der Drohnenhysterie wird jeden Tag mehr von ihrer von Anfang an dün­nen Realitätsgrundlage entzogen, was einen Politiker vom Charakterprofil eines Manfred Weber nicht anficht, wenn er bei Markus Lanz unbehindert vom Moderator schwadronieren darf: „Wie wär’s denn, wir wären in der Lage, mit Cyberangriffen mal für einen Tag die Moskauer U-Bahn still zu stellen?“ Das nämlich würde laut Weber deutlich machen: „Putin, hör’ auf damit!“ (ab Minute 4:54) Die Berliner Zeitung resümiert: „Wenn Putin hinter all dem steckt, wofür es bisher keine Beweise gibt, hätte sein ‚Test‘ vor allem eines gezeigt: wie hilflos und hysterisch der Westen reagiert.“

Woher der Wind tatsächlich weht: Die Machthabenden haben sehr schnell begriffen, dass sich die Drohnenangst, die sie selbst schüren, bestens zum Ausbau von Kontrollmechanismen im Innern eignet – gerichtet gegen die eigene Bevölkerung unter dem Vorwand, „wir“ müssten uns vor Gefahren sichern, aktuell vor russischer Aggression. Dass „wir“ das erfolgreich schaffen können – so der Beitrag „Was passiert, wenn Deutschland im Krieg ist?“ des Bayerischen Rundfunks – hätte ja der Sieg über Corona bewiesen.

Nicht zu vergessender Pluspunkt: Für das regierende Kartell ist die Schlagzeile „Putin schickt Drohnen“ besser als „AfD liegt vorne“.

„Die Machthabenden haben sehr schnell begriffen, dass sich die Drohnenangst, die sie selbst schüren, bestens zum Ausbau von Kontrollmechanismen im Innern eignet.“

Einsprüche der Vernunft

Stimmen der Vernunft sind rar gesät und in den USA eher zu Hause als in Europa – etwa in einem Videochat zwischen Jeffrey Sachs und Glenn Diesen; eine vernünftige, realpolitische Analyse der Russland-Situation, im Gegensatz zum Schaum vor dem Mund des polit-medialen Komplexes mit samt all seinen absurden „Experten“-Bataillonen hierzulande. Was Sachs den EU-Granden vorwirft, trifft zu: „Die europäischen Staats- und Regie­rungschefs diskutieren die Risiken nicht ehrlich und öffentlich.“ Auch die vulgäre Russophobie, die er in diesen Kreisen ortet, ist real, ebenfalls die immer grotesker orchestrierten Hassreden gegen Russland.

Ein Lichtblick immerhin flackert auch in Deutschland auf: Seit geraumer Zeit flutet Richard David Precht seinen gemeinsam mit Markus Lanz produzierten Podcast fast im Monatsrhythmus mit Wutausbrüchen über den polit-medialen Alarmismus auf allen Kanälen, „Putin“ stünde kurz davor, ganz Europa zu besetzen. Precht spricht von „Massenwahn“: „Wir steigern uns von Tag zu Tag in immer größere Bedrohungsphantasien rein, fangen an, diese Phantasien mit der Realität zu verwechseln.“

Er hält die Vorstellung für „völlig ab­surd“, dass die Russen, die sich „eine blutige Nase“ in der Ukraine holten, davon träumen könnten, weitere Territorien in Europa zu erobern – oder gar bis zum Atlantik durchzumarschieren, wie einige sagen. Aber es sei wie ein Gesetz: „Wenn bestimmte Behauptungen wiederholt und wiederholt und wiederholt wer­den, fangen immer mehr Menschen an, das für die Realität zu halten, und dann beginnt ein sich verselbständigender Prozess.“ Wenn aber genau dieser Prozess erwünscht ist?

Wie sagte einst EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker? „Wir beschließen etwas, stellen das in den Raum und warten einige Zeit ab, was passiert. Wenn es dann kein großes Geschrei gibt und keine Auf­stände, weil die meisten gar nicht begreifen, was da beschlossen wurde, dann machen wir weiter – Schritt für Schritt, bis es kein Zurück mehr gibt.“ Juncker sagte auch: „Wenn es ernst wird, muss man lügen.“ Wissen die Alarmisten, dass sie lügen – oder glauben sie an ihre eigene Hysterie?

Podcaster Precht legt nach: Die Sicherung der EU-Grenze auf 1.200 Kilo­metern gegen ein expansionssüchtiges Russland, wie es die EU an die Wand malt, sei beim Zustand der europäischen Armeen völlig „illusorisch“. Statt solche unrealistischen Szenarien zu propagieren, sollte die EU wieder zu Realpolitik übergehen – was nach der ruhigen Vernunft eines Jeffrey Sachs klingt.

Der letzte Precht’sche Wutausbruch: Je düsterer die Lage im Land sei, je deutlicher es werde, dass die Rolle des alten Europa obsolet sei, und je stärker diese flauen Gefühle würden, desto mehr werde Alarmismus betrieben und Militarismus beschworen. Das Panikschüren diene dazu, ein wirtschaft­liches Strohfeuer durch Rüstung anzufachen und durch das „Auf­bauschen externer Feinde“ den „gesellschaftlichen Zusammenhang [zu] stärken“.

Die Positionen Alarmismus und realpolitisches Denken tauschen stellvertretend für beide Lager Paul Ronzheimer und Erich Vad aus. Der „Bild“-Podcast verdient schon deshalb besondere Erwähnung, weil es im Meinungsvielfaltsland nicht mehr viele mediale Alphatiere gibt, die sich solch einer Diskussion überhaupt aussetzen, geschweige denn dazu auf ihrem eigenen Format einladen, wie der stellvertretende Chefredak­teur von „Bild“ dies tat.

Auf Vads Frage (ab Minute 31:23), was nach Ronzheimers Meinung der Grund für den Überfall auf die Ukraine sei, antwortet dieser ohne zu zögern: „Das imperialistische Streben Vladimir Putins“, der „große Teile des Sowjetimperiums zurückerobern“ wolle. Woraufhin der Ex-General und ehemalige Merkel-Berater Vad bemerkt, wenn Russland „in drei Jahren nicht mal den Donbass geschafft“ habe, dann könne man ja „gelassen abwarten“ – was Ronzheimer hörbar aus der Fassung bringt. Der General argumentiert damit auf derselben Realitäts­ebene, die auch Fernsehphilosoph Precht einfordert: Die Vertreter der Imperialismus-Theorie müssten sich fragen, „ob das militärisch überhaupt machbar ist“ – und die Russen würden jeden Tag beweisen, dass sie einen Militärapparat für imperialistische Gelüste gar nicht hätten.

Einfluss des Souveräns: gering

Kann man den Wahn noch stoppen? Die Lehre aus Corona: Der Bürger hat eine Chance, auf die Entscheidungsträger einzuwirken – nämlich wenn ihm eine indi­viduelle Entscheidung abverlangt wird (Impfung: Ja oder nein?), die er verweigern kann. Wenn dem Ansinnen eines übergriffigen Staates genügend Menschen widerstehen und sich eine kritische Masse bildet, zieht der Staat den Kür­zeren. So war es bei der Impfgesetzabstimmung im Bundestag. In allen Fragen aber, in denen der Einzelne keinen Druck durch individuelle Verweigerung aufbauen kann (Waffenlieferung an die Ukraine, Russophobie, Aufrüstung), hat er keine Einflussmöglichkeit. Da liegt sie, die Grenze „unserer Demokratie“.

Und wäre die EU nach den Vorstellungen ihrer jetzigen Protagonisten erst finalisiert, gäbe es überhaupt keine Souveränität mehr – keine national­staatliche, und erst recht keine des Bürgers. Deshalb arbeiten die EU-Eliten so verbissen daran, ein Feindbild Russland aufzubauen: Sie sehen darin ihre einzige und letzte Chance, den alles beherrschenden EU-Moloch in ihrem Sinne zu vollenden.