Deutschland und seine Sonderwege: Der preußische Protestantismus ist die einzige Religion der Welt, der fast alle Kriterien für Religiosität fehlen – nicht zuletzt jede Art von Sinnesfreude, die das Göttliche erst erfahrbar macht. Ersetzt wurde sie durch Hypermoral, Diesseitsfixierung und Tugend-Furor. Wie hat das freudlose Frömmeln unsere Gesellschaft geprägt?

Evangelisch-Reformierter Gottesdienst, 2020 (Screenshot: YouTube)

Ein schmuckloser Raum, den außer einer Holzvertäfelung nichts ziert. Die Möblierung: dem Konferenzraum eines billigen Tagungshotels ange­messen. Eine Beleuchtung von solcher Kälte und Unnahbarkeit, dass es einen fröstelt. Und komplettiert wird die trostlose Szenerie von zwei Menschen, die gekleidet sind, als hätten sie sich schick gemacht für ein Meeting im Büro. Als gingen sie einem business as usal nach. Tun sie ja auch: Es sind Funktionäre der reformierten Kirche bei einer Zeremonie, die sie „Gottesdienst“ nennen – und auf YouTube verbreiten. Gehuldigt wird dabei einem vollständig abstrakten Gott: dem „Wort“.

Der spezifisch deutsche Protestantismus ist, seit Luther im Jahr 1517 seine 95 Thesen gegen den Ablasshandel an die Schlosskirche zu Wittenberg nagelte, der einsame Sonderweg einer staats- und gesellschaftsprägenden Religion. Warum ihn außerhalb des deutschen Sprachraums kaum jemand mitgegangen ist und wie er gerade die deutsche Politik zu einem freudlos-frömmelnden Geschäft gemacht hat, wird im Vergleich mit den religiösen Formen anderer Völker, Zeiten und Weltgegenden offenbar: Was haben sie alle gemeinsam? Was für ein Symbolsystem haben Menschen völlig unabhängig voneinander erdacht, um etwas zu verehren, das außerhalb ihrer Macht steht? Und was davon fehlt dem Protestantismus?

Wann immer Menschen das existentielle Konstrukt der Religiosität entwickeln, zeigt sich, dass stets Ähnliches entsteht. Indem sie auf das reagieren, was sie bedrängt, indem sie sich die Welt und ihre Unerklärlich­keiten erklären, entstehen Mythos und Religion. Wobei die lateinische „religio“ nichts anderes heißt als „Rück­verbindung“ zu etwas, das außerhalb der menschlichen Sphäre liegt.

Für das Phänomen „Religion“ gibt es unterschiedliche Erklärungsmodelle. Das funktionalistische Modell etwa unterstellt Religiosität den Zweck der Angstreduktion, der emotionalen Stabilisierung des Individuums sowie der Vermittlung von Sinn und ethisch-moralischen Werten. Dieses Modell haben Marxisten entwickelt – nicht um das Phänomen aus der von Gläubigen erlebten Wirklichkeit heraus zu beschreiben, sondern um die Religion ihres Wesenskerns zu entkleiden und postmodern beliebig zu machen.

Denn unter dieser subtanzlosen Oberflächen-Definition kann alles und nichts subsummiert werden, ein Fankult im Sport ebenso wie politische Über­zeugungen. Der funktionalistische Erklärungsansatz sagt kaum etwas über echte Religio­sität aus, gibt dafür aber säkularen, verkappten Religionen Raum unter seinem Dach. Solche weltlichen Glaubensgebäude sind derzeit etwa als „Energiewende“, „Kampf gegen rechts“ oder „Antirassismus“ im Handel.

„Das funktionalistische Erklärungsmodell von Religion haben Marxisten entwickelt, um die Religion ihres Wesenskerns zu berauben und postmodern beliebig zu machen.“

Die Austauschbarkeit aufgrund der funktionalistischen Beliebigkeit hat längst den Schulunterricht erreicht. In einem bayerischen Religions-Lehrbuch gibt der Theologe Dietrich Zil­leßen die Parole aus, Religion nicht länger mit Begriffen wie Trost, Halt, Geborgenheit, Heimat, Grund, Beruhigung, oder Gewissheit zu assoziieren. Vielmehr stehe sie im begrifflichen Umfeld von Fremdsein, Heimatlosigkeit, Suche, Verunsicherung, Aufbruch oder Unruhe. Dringt der Autor mit dieser Umdeutung durch, ist das Ende von allem, was dem Menschen heilig ist, erreicht.

Und genau das ist wohl Zweck der Übung. Zilleßen als Vertreter einer dekonstruktivistischen „profanen Religionspädagogik“ ist auch Verfasser des Buchs „Gegenreligion“. Darin plädiert der Theologe für die „Befreiung“ vom Bedürfnis, so etwas wie das Göttliche „für absolut zu halten“ – und für die „Rechtfertigung des Gottlosen“. Indem er Gläubigen den Boden ihrer Religion unter den Füßen wegzieht, klingt bei ihm jene Haltung an, die in ihrer an Orwells 1984 gemahnenden Dialektik nicht zufällig auch im Grundsatzprogramm der Grünen von 2020 auf den Punkt gebracht wurde: „Veränderung schafft Halt„.

Das Heilige als Wesenskern

Eine ernstzunehmende Definition von Religion wird hingegen von den sogenannten Substanzialisten vorgetragen, die Religion auf ihren Wesenskern zurückführen, auf ihre „Substanz“. Im Erfahrungsraum zwischen Mensch und höherer Macht spielt für Substanzialisten die Sinnlichkeit eine zentrale Rolle. So ist Religion für Friedrich Schleiermacher „weder Denken noch Handeln, sondern Anschauung und Gefühl“. Für Gustav Mensching ist sie die „erlebnishafte Begegnung mit dem Heiligen“.

Dem überirdischen Gegenpol des Profanen widmete der Substanzialist Rudolf Otto 1917 eine ganze Abhandlung: „Das Heilige“: Es stehe „über aller Kreatur“ und manifestiere sich gerade in irrationalen Momenten, in denen der Gläubige das „schauervolle Geheimnis“ (mysterium tremendum) erlebe. Dieses Mysterium habe zwar Erschreckendes und Bedrohliches an sich, zugleich aber auch eine lichtvolle Seite: das Anziehende, Beglückende, Ent­zückende (mysterium fascinans).

Nicht jeder indes ist in der Lage, sich dem ambivalenten Mysterium zu öffnen und ihm standzuhalten. Gleich zu Beginn seiner Schrift „Das Heilige“ trennt Otto deshalb barsch die Spreu vom Weizen: „Wir fordern auf, sich auf einen Moment starker und möglichst einseitiger religiöser Erregtheit zu besinnen. Wer das nicht kann oder wer solche Momente überhaupt nicht hat, ist gebeten, nicht weiter zu lesen.“

Wer hingegen unerschrocken weiter dem Kern aller Religion nachspürt, wird früher oder später auf Mircea Eliades Vorstellung der „Hierophanie“ stoßen: eine Manifestation des Heiligen, das „sich zeigt“: Als Medium dazu benutzt es, dem rumänischen Religionsphilosophen zufolge, profane oder natürliche Gegenstände. So könne das Heilige „in Steinen oder Bäumen“ Gestalt annehmen, die dadurch ihr profanes Wesen verlieren und das „ganz andere“ werden.

Wie auch immer Menschen dieses „ganz andere“ als Sehnsuchtspunkt ihrer Religiosität nennen mögen – eines eint alle Gläubigen. Sie trachten danach, den Unterschied zwischen oben und unten, heilig und profan sinnlich erfahrbar zu machen: greifbar, sichtbar, hörbar und riechbar. Sie wollen ihren Glauben nicht verstehen, sondern buchstäb­lich begreifen, um ihrerseits vom Heiligen ergriffen zu werden.

Das Mittel zu diesem Zweck sind Wandlungs-Rituale. „Mit Hilfe der Riten“, so Eliade, „kann der religiöse Mensch von der gewöhnlichen zeitlichen Dauer in die heilige Zeit ‚überwechseln’.“ Diese Wandlung, dieses Überwechseln in die eigene Zeit des Heiligen im Gegensatz zur Zeit des Profanen, ist in diver­sen Spielarten allen Religionen stillschweigend gemein.

Im Islam tritt der Betende in einen „Weihezustand“ ein: „Der Beginn des rituellen Gebets markiert die Grenze, bei deren Überquerung man den Raum betritt, in dem einzig Allahs Gegenwart zählt,“ schreibt der Orientalist und Islamwissenschaftler Tilman Nagel. Im Hinduismus vermag es der Priester, im Ritual des prana pratishta („Herstellen von Leben“), die murti genannten Götterbilder „zur Inkarnation der Gottheit“ werden zu lassen. Nach Berühren der Herzregion der Statue und begleitenden Ge­beten ist diese Gottheit „nun tatsächlich auf Erden anwesend“, so der Hinduismus-Forscher Vasudha Narayanan von der University of Florida.

Religion ist stets der Eintritt in eine lebendige Gegenwart des „ganz anderen“, die (Ver-)Wandlung aus der Profanität und Materialität ins Heilige. Der Schamane verwandelt sich selbst in ein Medium, das außer sich treten kann, zur Reise in die Anderswelt – durch Ekstasetechniken mit Räucherwerk, Trommeln, Trance-Tanz, Gesang, manchmal durch psychedelische Drogen wie Fliegenpilze. In der katholi­schen Liturgie schließlich ist die Wandlung von Wein und Brot (Hostie) in Blut und Leib Jesu Christi der Mittelpunkt allen Glaubens.

Keine Wandlung, nirgends

Nichts von einer Wandlung hingegen im Protestantismus. Dessen Liturgie, also der Gottes­dienstablauf, ist zwar aus dem Katholizismus übernommen, aber die Lutheraner haben diese sinnliche Feier auf das Hören verkürzt: Nur das „Wort Gottes“ allein soll es richten. Die Beschränktheit auf das Wort bedeutet eine Entkernung der Liturgie, ähnlich einem Haus, das zur leeren Theaterkulisse werden muss, wenn es seines Innenlebens beraubt wird und nur eine karge Fassade übrigbleibt. Diese Fassade aber kann die Kälte und Sterilität des Säkularen nicht verdecken.

Martin-Luther-Denkmal in Berlin

Der Leitfaden „Reformierte Litur­gie“ legt auf über 600 Seiten dar, warum diese Sinnesfeindlichkeit gewollte Praxis ist. Immerhin wird deutlich, dass die Autoren um die „dürftige Armut“ evangelisch-reformierter Gottesdienste wissen, die „manche“ dabei empfinden, wenn ein Gott nur im „Hören und Reden, Singen und Schweigen“ erlebbar ist. Die reformierte Gottesdienstordnung lässt zwischen „Eingangswort“, Predigt sowie „Bekanntmachungen und Abkündigungen“ kaum Gelegenheit für Sinnlichkeit. Es gibt „keine liturgischen Gesänge“, da alle Kirchenmusik wortgebunden bleibt, keine „gottesdienstlichen Gewänder“, keine Bilder, keine liturgischen Farben, nicht einmal ein Kreuz. Anders als im Katholizismus – und ebenso wie in den etwas weniger kärglichen Gottesdiensten der lutherischen und unierten Varianten des Protestantismus – fehlen auch der Weihrauch und das Weihwasser, mit dem sich der Gläubige besprengt.

Der Katholizismus, und mit ihm praktisch jede andere Religion auf ihre Weise, kennt eine Vielzahl verschiedener „Sakramente“, zu deutsch „Heilmittel“, was schon von der Wortbedeutung her unmittelbar sinnlich erfahrbare Wirkung verheißt. Im Repertoire finden sich durchs ganze Kirchenjahr hindurch sinnlich-symbolische „heilige Zeichen“: die Segnung von Kreide am Dreikönigstag, um mit ihr die Haustüren mit dem Zeichen der heiligen drei Könige, C + M + B, zu beschriften; das Aschenkreuz am Aschermittwoch als Symbol der Vergänglichkeit; das Osterfeuer, das den Auferstandenen als Licht der Welt symbolisiert; die geweihten Osterspeisen am Auferstehungsmorgen und vieles mehr. Für reformierte Protestanten hingegen müssen lebenslänglich Taufe und Abendmahl genügen. Von „weiteren Zeichen, Gesten und begleitenden Riten“, so erklärt es der Leitfaden gouvernantenhaft, habe man „Abstand genommen“.

Verzichten müssen Protestanten auch auf die gemeinschafts- und sinnstiftenden Erfahrungen von Volksfrömmigkeit, Wallfahrtswesen, Heiligenverehrung oder Devotionalienkult – überall sonst auf der Welt praktiziert, selbst im Islam, wie der Volkskundler Rudolf Kriss dargelegt hat. Bei so viel Exklusivität droht soziale Isolation in der Glaubenswelt. Mit einem Moslem, der seine Gebetskette durch die Finger gleiten lässt, wäre meine Rosenkranz betende Großmutter mittels dieser sinnlich-religiösen Alltagspraxis sehr viel eher ins Einvernehmen gekommen als mit ihrer protestantischen Nachbarin.

Was für Protestanten tabu ist – ein trance-induzierendes Hilfsmittel, um sich in Gebet und Andacht zu versenken – gehört ansonsten zum Standard der Weltreligionen: die repetitiven Marien-Gebete im Katholizismus, die Anrufung der 99 Namen Allahs im Islam, auch die Verkörperung der 108 Bände aller Lehren Buddhas durch die gleiche An­zahl Perlen im Buddhismus, der seinerseits reichliche Räuchergaben mit dem Hinduismus teilt.

Religionsverbindend ist auch die erlebte Realität des „Allerheiligsten“: das Mysterium selbst, verwahrt in einem Schrein oder Kasten. Bereits das Adyton (das „Unzugängliche“) im antiken Tempelkult zeugt davon; im Judentum die Bundeslade, darin die Steintafeln mit den Zehn Geboten vom Berg Sinai, später die Cella des Jerusalemer Tempels, heute der Toraschrein in der Synagoge; im Katholizismus der Tabernakel mit den konsekrierten Hostien, dem Leib Christi. Im Protestantismus: Fehlanzeige – nachdem die Reformation geweihte Hostien ausmerzte, wäre der Tabernakel zum bedeutungsleeren Hohlraum reduziert gewesen.

Für die Herausgehobenheit des Priesters als Mittler von Transzendenz steht dessen Gewand, das ihn weltweit und religionsübergreifend sichtbar der Profanität enthebt. Ob Schamanen, christlich-orthodoxe und katholische Priester, buddhistische Lamas, japanische Shinto-Priester: sie alle haben dies gemeinsam – und in bewusst schroffer Abgrenzung davon steht allein der Casual-Business-Look reformierter Religionsverkünder. Nicht viel sinnlicher nimmt sich die jede Körperform verschleiernde Schwärze des lutherisch-protestantischen Talars aus. Er wurde der Tradition akademischer Kleiderordnungen der gebildeten Stände entlehnt – was einmal mehr auf die Wortlastigkeit dieser Konfession verweist.

Im Land der Kälte

Unsinnlichkeit und Pragmatismus der Religionsausübung produzieren bei großer historischer Durchdringung der Gesellschaft fast zwangsläufig eine Kälte im Menschenbild ihrer geistlichen Elite. Da hilft es wenig, wenn die Kälte-Produzenten stets das Gegenteil für sich in Anspruch nehmen, nämlich Menschenliebe und Warmherzigkeit: Die Realität entlarvt die Bigotterie der Sonntagsreden, die sie „Predigten“ nennen. In den Jahren der „Pandemie“ handelte die Amtskirche als „Zeugen Coronas“ unjesuitisch, unchristlich, letztlich unmenschlich, indem sie ihre seelsorgerliche Pflicht verleugnete, Einsamen und Kranken beizustehen. Die Evangelische Kirche Deutschlands (EKD) versagte dabei noch drastischer als ihre katholischen Amtsbrüder.

Kirche während Corona: Sterilität statt Spiritualität

Die EKD ist heute eine weltlich-grüne „Non-Government Organisation“ (NGO) wie viele andere, und so verhält sie sich auch. Eine säkularisierte Religionshülle, die sich dem traditionsfeindlichen woken Zeitgeist total gleichgeschaltet hat, die sich degradiert hat zu einem seiner vielen Verlautbarungsorgane, bar jeder Spiritualität – vom Alltags­handeln bis hin zum ultimativen Skandal: Der höchstrangige Vertreter des deutschen Protestantismus (wie sein Amtsbruder von der Katholischen Bischofs­konferenz) verleugnete ausgerechnet in Jerusalem, in Sichtweite von Golgatha, demonstrativ das Kreuz Christi.

Was aber stellt der deutsche Protestantismus an die Stelle Gottes? Was treibt evangelische Christen um? Mit 159.000 Mitgliedern in ganz Deutschland setzt sich die evangelisch-reformierte Landeskirche „dafür ein, dass die Menschheit Wege findet, den Klima­wandel aufzuhalten“. Deshalb stand ihre Synode 2022 „ganz im Zeichen der Klimagerechtigkeit“. Wichtigstes Ergebnis dieses Christentreffens war laut reformiert.de „zweifel­los der Beschluss des Klimaschutzkonzeptes“.

Die Berichte wimmeln nur so von Buzzwords wie „Klimaschutz­management“ oder „treibhausgas­neutrale Kirche“. Es prasselt Manager-Vokabular: „Bilanzierung“, „Emissionen“, „Einsparpotentiale“ und „Maßnahmen“, um die Gläubigen auf die Heilsversprechen der „großen gemeinsamen Anstrengung“ einzuschwören – sowie auf die „Notwendigkeit“, das kirchliche Leben „zukunftsorientiert auszurichten“. Wobei die Zukunft ausschließlich in diesem Leben gemeint ist, nicht im nächsten.

Aktuell setzen die Reformierten noch einen weiteren Schwerpunkt. Kirchenpräsidentin Susanne Bei der Wieden hat sich auf der Herbstsynode 2023 „für eine inhaltliche Neuausrichtung des kirchlichen Lebens und Handelns ausge­sprochen“. Die Synode empfiehlt, „Personen, die fortdauernd rechtsextremis­tische, ausgrenzende Positionen vertreten, von der Wählbarkeit zu den Gemeinde­gremien auszuschließen“. Was ist gemeint? Politikwissenschaftler Henning Flad von der Bundesarbeitsgemein­schaft Kirche und Rechtsextremismus klärt auf: Nicht akzeptabel sei eine „Übereinstimmung von Kirchenmitgliedern mit rechten Positionen im Bereich der Ablehnung von Gleichstellungspolitik und sexueller Vielfalt.“ Wer also daran festhält, dass es zwei Geschlechter gibt und nicht ebenso beliebig wie frei flottierend unendlich viele, gilt diesen Gottesmännern und -frauen als böse, asozial, brandmarkenswert amtsunwert. Ein Offenbarungseid.

Vorläufer solcher rotgrüner Politkommissare am Altar sind jene Pfarrerdarsteller der Siebzigerjahre, die sich „im Religionsunterricht auf das gestrige Fernsehprogramm bezogen“ und statt vom „Vater im Himmel“ von „sozialem Engagement“ predigten. So beschrieb es die 2016 verstorbene Schriftstellerin und Grünen-Aktivistin Ruth Reh­mann, selbst Tochter eines evangelischen Pfarrers. Wie konnte es zu dieser Gottlosigkeit kommen? Indem der deutsche Protestantismus Gott unsichtbar machte und letztlich ab­schaffte, um an seine Stelle einen Götzen namens „die Wissenschaft“ zu setzen. „Follow the science!“: Im Schlachtruf der Corona- und Klima-Hysteriker kulminiert jene pervertierte „Aufklärung“, die der Psychologe und Philosoph Ludwig Klages als „götterlose Willensvernunft“ geißelte.

„Die EKD ist heute eine weltlich-grüne Non-Government Organisation (NGO) wie viele andere, und so verhält sie sich auch.“

Ob dieser Entzauberung der Welt schrillen seit langer Zeit Alarmglocken. Bereits Novalis‘ 1826 erschienene Schrift „Die Christenheit oder Europa“ besitzt einen aufklärungskriti­schen Kern: Eine neue Kirche sei entstanden, „aus lauter Wissen zusammengeklebt“. Deren Priester seien „rastlos beschäftigt, die Natur, den Erdboden, die menschlichen Seelen […] von der Poesie zu säubern – jede Spur des Heiligen zu vertilgen“, alles „Wunderbare und Geheimnisvolle“ sorgfältig abzuwaschen, um nicht mehr zittern zu müssen im Angesicht eines Mysterium tremendum. „Gott“, so Novalis, „wurde zum müßigen Zuschauer des großen rührenden Schauspiels, das die Gelehrten aufführten.“

Eher nicht zu erwarten ist, dass Gott sich heute an jenen Tönen erfreut, die grün zertifiziert von den Kanzeln dringen – aus dem Munde von Predigern, die das Heilige ausgetauscht haben gegen „Vielfalt, Klimaschutz und Demokratie“. Soll das alles sein, was übrigblieb von der „unendlichen schöpferischen Musik des Weltalls“, die der evangelische Theologe Hermann Timm vernahm? Eine Welt, die er bereits „zur mathematisch reinen, sinn- und gefühllosen Räson gebracht“ sah? Alle Religion, zusammengeschrumpft auf eine dürre Zahl – das von „der Wissenschaft“ verkündete Dogma „1,5 Grad Celsius“?

Friedrich Nietzsche, dessen Denken auf dem mythischen Urgrund der Religion steht, hat vor allem „die Wissenschaft“ für den Tod des Religiösen verantwortlich gemacht: „Wohin ist Gott? Ich will es euch sagen! Wir haben ihn getötet. Das Heiligste und Mächtigste, was die Welt bisher besaß, es ist unter unseren Messern verblutet.“