Wie eine Bleidecke lastet der Konformismus auf dem Land. Einen bestimmten Frauentypus treibt gerade das in die politische Rebellion. Wie niemand sonst zertrümmern diese Frauen Dogmen und ernten Stürme der Zustimmung – oder der Aggression. Wie wird eine zur Jeanne d’Arc 2.0? Und wieso keilt das Establishment nach dem immergleichen Schema gegen sie aus?
Von Oliver Driesen und Jürgen Schmid
Am 14. Oktober 2022 sprach die langjährige Moskau-Korrespondentin der ARD, Gabriele Krone-Schmalz, in der Volkshochschule Reutlingen über „Russland und die Ukraine“. Absurd erschien, dass der Gastgeber und sie selbst sich x-mal entschuldigen mussten, bevor sie mit den Ausführungen überhaupt erst beginnen konnte. Solche Vorträge zu politischen Zeitfragen wurden in der Bundesrepublik über Jahrzehnte hinweg tausendfach gehalten – der eine fand’s gut und interessant, ein anderer hatte eine andere Meinung, die meisten nahmen es überhaupt nicht Kenntnis. Heute hingegen drängt sich – mit gehöriger Zeitverzögerung – der Tübinger Osteuropa-Forscher Klaus Gestwa in die Öffentlichkeit und teilt via T-Online sein „Entsetzen“ mit – über die Aussagen von Krone-Schmalz, über die Veröffentlichung auf YouTube, eigentlich darüber, dass ein solcher Vortrag überhaupt gehalten werden darf.
Was hat die Frau Unsagbares gesagt? T-Online fasst es so zusammen: „Die Nato-Osterweiterung habe ‚Russland provoziert‘ und dessen ‚berechtigte Sicherheitsinteressen verletzt‘, sagt Krone-Schmalz. Die Ukraine sei nur der ‚Handlanger des Westens’ und Russland würde ‚vom Westen dämonisiert‘.“ Einschätzungen, für die es gute Argumente gibt, die Krone-Schmalz auch vortrug. Der von T-Online interviewte Gestwa aber spricht der Referentin den Expertenstatus ab: Sie sei „nicht Teil der akademischen Fach-Community“. Wer von den universitären Osteuropa-Forschern nicht in die Zunft der universitären Osteuropa-Forscher aufgenommen wurde, kann sich offenbar zu den Themen, die diese Zunft als ihr Monopol betrachtet, nicht fundiert äußern.
Dabei ist Krone-Schmalz unzweifelhaft Expertin. Nicht nur, weil sie viele Jahre lang aus Russland berichtete und dabei umfassende Einblicke in die russische Seele erhielt. Ihre Dissertation „Vom Kiever Reich zum Kalten Krieg: Vorstellungen von Russen und Russland im Schulfunk nach 1945 beim Westdeutschen, Norddeutschen und Bayerischen Rundfunk sowie Radio Bremen“ wurde 1977 von der Universität Köln angenommen. Gestwa nennt die Arbeit „dünn“ – damit ist das Buch vom Tisch gewischt und der Expertenstatus gleich mit. „Doch wer ist die Referentin überhaupt?“, fragt in einem weiteren aus einer ganzen Reihe von T-Online-Beiträgen zum Vorgang derselbe Journalist, Michael Ströbel, rhetorisch. Schon die Tonlage der Frage gibt die halbe Antwort: eine unseriöse Person. „Gabriele Krone-Schmalz war zwischen 1987 und 1991 ARD-Korrespondentin in Moskau. 2008 verlieh Wladimir Putin ihr die Puschkin-Medaille – ‚in Anerkennung ihres Beitrages zur Festigung der Freundschaft und der Zusammenarbeit zwischen Russland und Deutschland’.“ Das Urteil ist gefällt, die Angeklagte ist mithin „äußerst umstritten“.
Aber wer ist ihr Kritiker Klaus Gestwa überhaupt? Laut T-Online „seit 2009 Direktor des Instituts für Osteuropäische Geschichte und Landeskunde an der Eberhard Karls Universität in Tübingen“. Dass er „darüber hinaus“ (Wikipedia) „seit 2013 auch Vertrauensdozent der Friedrich-Ebert-Stiftung“ ist, erfährt man bei T-Online nicht, wo man eine regelrechte Kampagne gegen Gabriele Krone-Schmalz veranstaltet. Bereits vor dem Interview mit Gestwa, der das Vertrauen einer regierungsnahen Stiftung genießt, zählt Kampagnenjournalist Ströbel sein Kompromat auf: „Russlandnah, Kremlpropaganda, Putin-Versteherin: Die Vorwürfe gegen Gabriele Krone-Schmalz wiegen schwer. Dennoch durfte sie in Reutlingen reden.“
Eine offenkundige Position gegen freie Meinungsäußerung, eine implizite Aufforderung zur Zensur. Deutlicher wird im selben Beitrag Franziska Davies, Akademische Rätin auf Zeit am Institut für Geschichte Ost- und Südosteuropas der Münchner LMU. Auf die Erklärung des Geschäftsführers der VHS Reutlingen, Ulrich Bausch, er habe Gabriele Krone-Schmalz eingeladen, weil man „in der pluralistischen Demokratie auch plural ein breites Meinungsspektrum zu Gehör bringen müsse“, erwiderte sie: „Es liegt in der Verantwortung von Volkshochschulen, dass man keine Meinungen zu Expertisen erhebt, so wie das hier geschehen ist“. Meinungen zu Expertisen? Unter letzteren scheint sie das zu verstehen, was sie selbst und die ihr genehmen Experten verlautbaren; alles, was davon abweicht, ist „Meinung“. Franziska Davies statuiert, die Volkshochschule Reutlingen habe als „Gatekeeper“ versagt; sie hätte der falschen „Meinung“ keine Bühne bieten dürfen. Ein klarer Fall von Aufforderung zur Zensur, ein eindeutiges Beispiel für „Cancel Culture“.
Ulrich Bausch von der Volkshochschule Reutlingen bezeichnet das, was Franziska Davies äußert, als Einschüchterungsversuche: „Zu glauben, man hätte das Recht, Druck auf andere auszuüben“, sei eine neue Form der „Empörungskultur“. Und: „Ich lasse mir doch nicht von irgendeiner Kampagne vorschreiben, was in der Demokratie gesagt werden darf oder was nicht.“ Genau das – Vorschriften erlassen, wer was sagen darf – hatten Franziska Davies und Klaus Gestwa im Vorfeld des Vortrags versucht, in dem sie „Warnungen“ (T-Online) ausgesprochen hätten, die „ignoriert“ worden seien. Derselbe Gestwa, der freimütig zugibt, er habe dem Veranstalter im Vorfeld „geschrieben“, leugnet hinterher den Zweck seines Schreibens: „’Cancel Culture’ ist oftmals das Wutgeheul derjenigen, die für ihren offensichtlichen Unsinn öffentliche Kritik ernten.“ Es ist das Narrativ derjenigen, die canceln wollen: auf frischer Tat ertappt dreist zu behaupten, es gäbe gar keine Cancel Culture, sondern nur dünnhäutige Gecancelte.
Als wären die „Warnungen“ an die Volkshochschule Reutlingen noch nicht Beweis genug, dass es „Cancel Culture“ eben doch gibt, machten T-Online und seine Expertin Davies weiter mit ihren Versuchen, Gabriele Krone-Schmalz mundtot zu machen. Kurz nach dem Reutlinger Vortrag sollte eine Einladung nach Köln verhindert werden und – als das nicht gelang – wurde das in Köln Gesagte erneut frontal angegriffen (hier und hier). Krone-Schmalz, so wieder Interviewpartner Gestwa, könne die Annexion der Krim nicht als „’Notwehr’ eines bedrängten Russlands“ darstellen, weil es ein bedrängtes Russland nicht gebe, sondern nur einen russischen Angriff auf die „nach 1991 entstandene Sicherheitsordnung“ in Europa. Wer wie Krone-Schmalz danach fragt, wie diese Sicherheitsordnung entstanden ist, und dabei unweigerlich zum Schluss kommen muss, dass sie eine von den USA und der von ihr dominierten Nato konstruierte ist und dass das Vorrücken der Nato bis an Russlands Grenzen Russland selbstverständlich „bedrängt“ hat (und bedrängen sollte), dem fehlt laut Gestwa „kritische Distanz und Reflexion“.
Was genau denn „problematisch“ an ihr sei, will der Interviewer wissen. Und da entfaltet sich ein Muster der vermeintlichen Attacke, bei dem das Establishment sich vielmehr selbst den Spiegel vorhält: Krone-Schmalz sei, so Gestwa, eine „politische Influencerin“, die ein „publizistisches Geschäftsmodell“ erfunden habe, Politik „zu erklären“. Sagt einer, der gerade auf T-Online an seiner Reputation als Influencer arbeitet. Sie wisse „sich öffentlich zu inszenieren“. Sagt jemand, der sich gerade auf T-Online öffentlich inszeniert. Es sei „eine gerissene Taktik, sich auf Kosten anderer zur Welterklärerin zu erheben“. Sagt einer, der sich längst zum professioneller Welterklärer erhoben sieht. Auf wessen „Kosten“ sich Krone-Schmalz „erhebt“, lässt der Ankläger im unbestimmten Raunen schweben. Auch diese Methode, nicht konkretisierte oder belegte Anwürfe gegen die Person, setzt sich fort und fort: Krone-Schmalz arbeite mit „publizistischen Taschenspielertricks“, benötige „dringend Nachhilfe“, argumentiere „frag- bis merkwürdig“, verstecke sich hinter einer „Maske der inszenierten Professionalität und Seriosität“. In der Sache wird dabei kein Argument der Referentin widerlegt. Jede dieser Hülsen könnte man ebenso unbewiesen gegen den Angreifer wenden.
Warum aber arbeitet sich der Tübinger Osteuropa-Forscher derart ausführlich und geradezu persönlich herausgefordert an etwas ab, das jemand an der Volkshochschule Reutlingen vorgetragen hat? Zunächst das Profane: Vielleicht hat der Professor noch nie erlebt, dass ein Vortrag „viral geht“. 800.000 Aufrufe des YouTube-Videos der „unseriösen“ Kollegin sind geeignet, Neid zu generieren. Auch die gedankliche Unabhängigkeit, die eine Frau mit eigener Expertise unter Beweis stellt, kann neidisch machen. Das alles wäre dann nichts weiter als eine Eitelkeits-Fehde unter akademischen Welterklärern. Doch hier schwingt noch mehr mit: Krone-Schmalz ist eine Frau. Eine Frau, die aus der westlichen Einheits-Kriegsfront ausschert und Annäherung oder gar Friedenslösungen sucht, eine Frau, die dem Establishment von der Fahne geht. Eine, von der es verächtlich bis wutschnaubend heißt: Sie war doch mal eine von uns. Und jetzt: eine Ketzerin.
Ursprünglich verdankt die Ketzerin ihren Schimpfnamen wohl dem spätgriechischen Adjektiv καθαρός, „katharós“, zu deutsch „rein“. Doch die Ketzerin ist das genaue Gegenteil, also unrein: Sie verstößt gegen die reine Lehre der Kirche. Interessant ist, dass auch die psychologische „Katharsis“ denselben Wortstamm hat. Bei diesem Vorgang der seelischen Selbstreinigung bewältigt man innere Konflikte dadurch, dass beispielsweise kognitive Dissonanzen durch einen bewussten Akt des Aufbegehrens aufgelöst werden. Ein offizielles Narrativ etwa, das nicht mit der eigenen Wahrnehmung der Welt in Übereinstimmung zu bringen ist, wird durch eine selbst erarbeitete Analyse ersetzt, die sowohl intellektuell als auch emotional befriedigener erscheint. Der klassische Ausdruck ketzerischer Motivation ist Luthers „Hier stehe ich, ich kann nicht anders“, mit dem er vor Kaiser und Papst trotz Androhung schwerer Strafe auf seinen Thesen gegen den Ablasshandel beharrte.
Gilt dieses übermächtige Verlangen nach Auflösung innerer Widersprüche noch für Ketzer und Ketzerin geschlechtsübergreifend, so kommen bei abtrünnigen Frauen spezifisch feminine Konnotationen der Unreinheit hinzu: neben der gerade für orthodoxe Bewahrer des Glaubens höchst unheimlichen Monatsblutung auch die „Katzenhaftigkeit“ des weiblichen Wesens, Synonym für Falschheit oder Verschlagenheit. „Cattus“ ist das lateinische Wort für Katze, die in der Volksmythologie seit dem Mittelalter als das Tier des Teufels angesehen wurde. Das falsche Gold oder „Katzengold“ stammt ebenfalls aus dieser etymologischen Entwicklungslinie. Die Ketzerin ist also, weit mehr noch als der Ketzer, schon aufgrund ihres Geschlechts traditionell der Unreinheit und Falschheit verdächtig, gefährlich nah an der letzten Steigerungsform eines weiblichen Teufelswesens, der Hexe. Nur einer solch „falsche“ Frau nimmt sich das Recht, gegen das Reine und Wahre zu opponieren. Von daher wohl das deutlich höhere Aggressionspotential, das Auftritte von Ketzerinnen bis hinein ins heutige woke Establishment auslösen.
Etwa Auftritte von Ulrike Guérot. Die telegene und eloquente Politikwissenschaftlerin galt einst als progressiv, als linksliberal, als angemessen antinational und mithin auch irgendwie globalistisch. Auch sie war „eine von uns“, ein gefragter Gast auf Podien und in Redaktionen. Guérot trat beispielsweise noch im Frühsommer 2015 als Fürsprecherin der EU und für die Entgrenzung der überkommenen Nationalstaaten in Erscheinung, wofür die „Zeit“ ihr gerne ein Forum bot. Doch schon mit dem Brexit 2016 geriet die vertraute und systemaffirmative Positionierung ins Wanken: Die Professorin deutete ihn als „Weckruf“, als Zeichen dafür, dass die EU ein undemokratischer Moloch geworden sei. Doch immer noch glaubte sie an die Schaffung einer „europäischen Republik“, deren Bürger allerdings in den Stand eines wirklichen Souveräns erhoben werden müssten. Da hoben sich schon erste Augenbrauen im Lager der „Moralbourgeosie“ (Alexander Wendt).
Der Bann des Establishments traf sie dann mit Corona. Im Mai 2021 schloss sich Guérot einer Initiative von Wissenschaftlern an, welche die maßnahmenkritische Aktion #allesdichtmachen befürworteten – eine Aktion, die von allen Mainstream-Medien und -Politikern sowie von der Mehrheit der etablierten „Filmschaffenden“ (Wikipedia) in Bausch und Bogen verdammt worden war. Alle Mitwirkenden, darunter so arrivierte Schauspieler wie Nadja Uhl oder Jan Josef Liefers, wurden ihrerseits als Ketzerinnen und Ketzer verfemt, bis hin zu Forderungen, sie nie wieder für Filmproduktionen zu engagieren. Es war der bisherige Höhepunkt der Gleichschaltungs-Hysterie. Die 52 Abtrünnigen werden bis heute von Wikipedia namentlich angeprangert; hinter dem jeweiligen Namen steht ein rotes Kreuz, wenn derjenige später unter dem massiven öffentlichen Druck zu Kreuze kroch und seinen Beitrag zurückzog. Und trotzdem hatte Guérot sich als „eine von denen“ geoutet.
Doch es kam aus Sicht der diskursdominierenden Klasse noch viel schlimmer. Am 8. März 2022 brachte das nicht gerade mainstreamige Magazin „Rubikon“ einen „exklusiven Vorabdruck“ aus Guérots neuem Buch „Wer schweigt, stimmt zu“. Darin standen unter anderem Sätze wie: „Zuerst räumen wir auf, jeder in seinem Land. Wir überantworten die Verantwortlichen dem Internationalen Strafgerichtshof, sollte sich herausstellen, dass es nicht die Fledermaus war, sondern doch ein Labor, das uns das Virus beschert hat, wie der dänische Sonderbeauftragte der UNO kürzlich leakte.“ Starker Tobak. So stark offenbar, dass der betreffende Buchauszug heute nicht mehr auf „Rubikon“ zu finden ist. Ein anderer Vorab-Exzerpt, eine Woche später veröffentlicht, ist nach wie vor online. Dort heißt es unter anderem über totalitäre Systeme: „Die Überwindung der kognitiven Dissonanz, in der sich jeder denkende Mensch in der Sowjetunion befunden hat (…), gelingt durch Verdrängung, gestützt auf jede Menge Alkohol, Wodka in diesem Fall. Wer an die Wahrheit nicht mehr herankommt, muss sich das, was ihm als solche verkauft wird, schöntrinken, damit er daran glauben kann.“ Genau das schaffen Ketzerinnen wie Guérot nicht länger. Und genau dieses „Hier stehe ich, ich kann nicht anders“ bringt die Zweiflerin an der reinen Lehre auf die schwarze Liste.
Die Hatz war offiziell eröffnet. Ein Soziologe namens Armin Nassehi stellte bei Guérot einen „autoritär-faschistoiden Sound“ fest. Ein konkurrierender Politikwissenschaftler, Markus Linden, schimpfte sie eine „Ikone der Querdenkerszene“ und Verbreiterin halbwahrer bzw. in Talkshows nicht sofort überprüfbarer Behauptungen. Nun müsste man schon ein veritabler Suchmaschinenakrobat sein, um alle Talkshow-Behauptungen von sattelfesten Establishment-Ikonen wie, sagen wir, Luisa Neubauer, in Echtzeit verifizieren zu können. Doch auch die Leitmedien des Landes hatten Guérot nun fallengelassen wie die sprichwörtliche heiße Kartoffel, zumal sie noch nachlegte und – ähnlich wie ihre Mitketzerin Krone-Schmalz – fundamentale Zweifel am amtlichen Narrativ zur Ukraine-Invasion anmeldete. Und wie Krone-Schmalz flog Guérot die Sympathie eines wachsenden Publikums jenseits der Leitkulturplanken zu.
Dieser Trigger rief zum wiederholten Mal Markus Linden auf den Plan, ihren Wettbewerber um Deutungshoheit. Ihm, nicht ihr, standen nun die Tore der „Zeit“ weit offen. Im August 2022 präsentierte er sich, wie zuvor schon in der FAZ, nun zusätzlich nicht nur als Kritiker, sondern auch als Plagiatsjäger, der unbelegte Zitate Guérots in ihren wissenschaftlichen Werken aufdecke. Merkwürdig unentschlossen und wie nach dem Motto „doppelt hält besser“ wirkt diese Zweifachstrategie in der langen Abhandlung. Die inhaltliche Kritik schlägt vielfach in dieselbe Kerbe wie schon diejenige von Klaus Gestwa an Gabriele Krone-Schmalz: insinuieren, raunen, mit butterweichen Begriffen operieren, die schädigende Haftminen platzieren sollen: „Analog zu den Gepflogenheiten von Vertretern der Querdenker- und Querfrontlerszene versucht Guérot, Tatsachen zu Meinungen anderer Menschen umzudeuten, um im nächsten Atemzug ihre eigenen persönlichen Meinungen als ‚alternative Fakten‘ zu präsentieren.“
Die einzig harte Währung in diesem Satz, der Begriff der Fakten bzw. Tatsachen, ist indes in einem so volatilen Feld wie dem Politischen selbstverständlich nicht in Stein gemeißelt, sondern stets Gegenstand von Interpretation, Kontext und durchsetzbarer Meinungsmacht. Darin besteht ja gerade der ewige Diskurs der Politikwissenschaften. Natürlich weiß das auch der Professor nebst den ihm verbundenen Redaktionen – und hielt vielleicht gerade deswegen die Plagiatsvorwürfe für zusätzlich geboten. Sollten sie zutreffend sein, würden sie eine wissenschaftliche Schwäche der Angegriffenen offenlegen. Nur ist das Plagiat, also das Unterschlagen der Originalquelle, nicht als Beleg für das geeignet, was Linden Guérot im Kern unterstellt: eine „Stimme des Postfaktischen“ zu sein, also Wahrheiten aus der Luft zu greifen oder „harte Fakten“ zu negieren. Der Plagiatsvorwurf diskreditiert auf einer völlig anderen Ebene. Das, was Linden da akribisch zusammenstellt, schmälert die wissenschaftliche Herleitung, aber nicht die Wahrhaftigkeit oder Überzeugungskraft der inhaltlichen Positionierung Guérots. Es macht sie zu einer weniger originellen, aber nicht automatisch weniger „wahren“ Denkerin. Würde Guérot Einsteins Formel e=mc2 als die eigene ausgeben, bliebe diese dennoch das bislang überzeugendste Stück Welterklärung.
Dass eine populäre Ketzerin noch stets die intensivsten und verbissensten Anstrengungen auslöst, ihr das Handwerk zu legen oder das Mikrofon zu entziehen, zeigen nicht nur die Attacken auf Guérot und Krone-Schmalz. Vielleicht ist es gerade eine Folge der Feminisierung des politischen Raumes, dass Abweichlerinnen aus dem Lager der Rechtschaffenen doppelt strenger Inquisition ausgesetzt sind. Und wer würde sie mehr auf sich ziehen als Sahra Wagenknecht? Innerhalb der SED/PDS/Linken sorgte die in allen Rottönen irisierende – und nicht wenige Wähler betörende – Politikerin schon für Verwerfungen und Zerwürfnisse, lange bevor der Irrsinn des Cancelns und Verfemens die gesamte deutsche Politik erreichte. Das begann mit ihrer leitenden Rolle in der sogar innerhalb der PDS noch linksextremistischen „Kommunistischen Plattform“ (KPF), von der sie sich 2010 zurückziehen musste. Der eigene Parteivorstand distanzierte sich von den stalinistischen Positionen der KPF.
Es blieb nicht die einzige „Plattform“ in Wagenknechts schillernder Parteikarriere. Die nächste, 2018 zusammen mit ihrem Ehemann Oskar Lafontaine gegründet, nannte sie „aufstehen“. Eine überparteiliche linke Sammlungsbegwegung sollte es sein. Doch wo es ein „Platforming“ gab, war im mittlerweile hysterisierten Cancel-Deutschland das „De-Platforming“ nie weit. Schon 2016 war Wagenknecht eine Torte ins Gesicht geflogen, als sie es gewagt hatte, von „Kapazitätsgrenzen“ bei der Aufnahme von Migranten zu sprechen. Das Linken-Establishment zählte sie ein weiteres Mal an, als sie die französische Gelbwesten-Protestbewegung lobte, obwohl diese als „rechts unterwandert“ verschrieen war. Ihr Parteichef Bernd Riexinger warnte öffentlich vor dem „Potenzial Ultrarechter in den Reihen der Bewegung“. Wagenknechts Veröffentlichung ihres Abrechnungs-Buches „Die Selbstgerechten“ im April 2021 brachte das Fass beinahe schon zum Überlaufen: Heilige Allianzen wie „Black Lives Matter“ und „Fridays For Future“ als selbstgerecht brandmarken? Sakrilege wie diese, so die parteiinternen Kritiker, sollten genügen, um die Kandiatur auf Listenplatz 1 der NRW-Linken ruhen zu lassen. Die Kritisierte tat es nicht – und zog über die Landesliste 2021 erneut in den Bundestag ein. Ein Parteiausschlussverfahren gegen sie war abgeschmettert worden.
Als inoffizielle deutsche Meisterin im Wider-den-Stachel-Löcken brachte es Wagenknecht seither zu rekordverdächtiger Widerworte-Frequenz: Impfpflicht-Gegnerin, „populistische“ Fürsprecherin der von der Politik entfremdeten Bürger, „Putin-Versteherin“, Kritikerin der Gendersprache als Lieblingsprojekt der „Progressiven“, Opponentin gegen Beschränkungen der Meinungs- und Pressefreiheit, „schockierende“ Ablehnung der Russland-Sanktionen bei ZDF-Lanz; die Liste wurde länger und länger. Und mit jedem eloquent begründeten „Ego non!“ flogen Wagenknecht mehr Herzen zu – außerhalb der politisch-medialen Selbstgerechtigkeitsblase natürlich. Wäre die Rolle der populären Ketzerin Jeanne d’Arc in einer Hollywood-Neuverfilmung zu besetzen: Sahra Wagenknecht müsste aus dem Stand verpflichtet werden.
Die Frau, die gegenüber der Macht ihren Standpunkt behauptet: Hier stehe ich, ich kann nicht anders. Oder ist alles nur gut inszenierte Attitüde? Als „Faszinosum“ würde der 2018 verstorbene CDU-Bundestagspräsident Philipp Jenninger, 1988 selbst ein frühes Cancel-Opfer der bundesdeutschen Politikgeschichte, Wagenknecht heute vielleicht zu erklären versuchen. Die Krone setzte sie ihrem Kreuzzug gegen das (pseudo-)linke Establishment unlängst auf, als sie die Grünen „die heuchlerischste, abgehobenste, verlogenste, inkompetenteste und – gemessen an dem Schaden, den sie verursachen – derzeit auch die gefährlichste Partei, die wir aktuell im Bundestag haben“ nannte, mitsamt ausführlicher Video-Begründung. Oh, die Zustimmung! Oh, der Aufschrei! Natürlich wurde ihr aus dem lifestyle-linken Lager nach bewährten Diffamierungs-Muster prompt geraten, mal wieder die „Plattform“ zu wechseln und der AfD beizutreten.
Doch ein noch radikalerer Schritt könnte sich anbahnen: Das Gespenst einer Wagenknecht-Partei geht um in Deutschland. Schon heute würden eine solche Gründung der „zweitbeliebtesten Politikerin“ Deutschlands („Focus“) mehr als 42 Prozent der Befragten einer Civey-Umfrage vom Monatsbeginn begrüßen. Meinungsforscher Hermann Binkert vom Insa-Institut sagte in „Bild“ voraus, diese Parteigründung könne die Wahlergebnisse der AfD halbieren. Frauen, die sich aufrecht quer zur Front stellen, erschüttern verkrustete Strukturen eben mehr als jeder andere, und ein telegenes Profil schwächt diesen Effekt nicht gerade ab.
An Verwünschungen, finsteren Anspielungen, Attacken auf ihre persönliche Integrität mangelt es Akteurinnen wie Krone-Schmalz, Guérot und Wagenknecht gewiss nicht. An Haltungsstärke bei Gegenwind im Unterschied zu vielen anderen auch nicht. Sie zeigen Zivilcourage nicht aus einer wohlfeilen Position hundertfacher Überlegenheit wie beim „Kampf gegen rechts“. Sie opponieren vielmehr, wo Opposition nicht billig ist – und genau das wird ihnen von den „Charaktermasken“ (Karl Marx) des Systems nicht verziehen. Dafür treffen sie die Wellenlänge von Menschen, deren Antennen im weißen Rauschen unserer Zeit auf Signale der Wahrhaftigkeit ausgerichtet sind.
Doch ob gehasst oder geliebt – ein einziges Attribut scheint weder Freundin noch Feindin den populären Ketzerinnen zuzuschreiben: Als „feministisch“ geht offenbar keine von ihnen durch. Frauensolidarität aus der woken Wagenburg brauchen sie nicht zu erwarten. Und die Frauensolidarität aus der stets wachsenden Gemeinde der Ausgegrenzten, die ihnen tatsächlich warm entgegenschlägt, firmiert unprätenziös als „menschlich“.
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Meine Abkehr von den „Qualitätsmedien“ und dem ÖR hat schon vor einigen Jahren stattgefunden. Ein heilsamer Schritt, der mich vor dem kollektiven Wahn, Geschichtskittelei, Realitätsverzerrung,“DIE Wissenschaft“ u.v.m. bewahrt hat. Nein, als „feministisch“ würde ich Sarah Wagenknecht und Gabriele Krone-Schmalz auch nicht bezeichnen – sondern als kluge, gebildete, integere und anständige Leitfiguren, die uns durch diese düsteren Zeiten navigieren. Und sie glauben nicht, wie oft ich schon hinter vorgehaltener Hand gehört habe „Die Wagenknecht soll eine eigene Partei gründen, ich würde sie sofort wählen!“ 🙂
P.S. Ich weiß nicht, wo ich das anbringen soll – ich empfehle Ihnen ein (männliches 😉 Duo, das fernab vom Mainstream sehr fundierte und treffende Analysen zum aktuellen Weltgeschehen (speziell Ukraine-Krieg) liefert: „THE DURAN“ (YT, Locals, Rumble). Sie dürfen erraten, wie The Duran von „Faktencheckern“ bewertet wird.
Ich stelle fest, dass in Ihrer Aufzählung der integren Leitfiguren jemand aus diesem Triptichon fehlt 😉
Wagenknecht käme nach einer neuen Umfrage angeblich auf 19 Prozent. Ich bleibe zwiespältig. Jemand, der mal Stalin gehuldigt hat und Marktwirtschaft nicht als das kleinste Übel begreift?
The Duran (klingt mehr wie eine Band) schaue ich mir mal an, danke!