Ist Deutschland “lost”? Beim europäischen Gesangswettstreit scheint es nur noch zu verlieren. Dafür punkten die Deutschen als Moralweltmeister, irgendwo zwischen Selbstüberschätzung und Selbstverleugnung. Welches Flaggen-Design passt wohl am besten dazu?

Schwarz steht für das Dunkel der Nacht, Gold für die Morgenröte am Horizont und Rot für das Blut, das einst für die Befreiung von der Napoleonischen Fremdherrschaft vergossen wurde – soweit eine der recht pathetischen Deutungen der deutschen Nationalfarben. Tatsächlich fand sich die Kombination Schwarz, Rot und Gold schon gut 200 Jahre vor Napoleon im Wappen des „Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation“ wieder. Aber erst nach den Befreiungskriege von 1813 bis 1815 wurde daraus erstmals eine Flagge genäht, die dann wohl auch entsprechend symbolisch aufgeladen wurde.
Was man auch immer in dieses Farbschema hineininterpretieren mag, Schwarz-Rot-Gold steht nun einmal für dieses seltsame Land in der Mitte Europas. Ganz exklusiv sind die drei Farben nicht, auch der Nachbar Belgien schmückt sich damit, ebenso wie die Republik Uganda. Wobei deren „Gold“ offiziell ein Gelb ist, was optisch aber natürlich kaum einen Unterschied darstellt. Was die deutsche Fahne nun aber so besonders macht, ist das neurotische Verhältnis, das die Deutschen selbst zu ihr pflegen. Schließlich steht gerade eine Landesflagge wie kaum ein anderes Symbol für eine Nationale Identität und in internationalen Wettbewerben auch für so etwas wie Nationalstolz – zumindest im Rest der Welt.
Dass die eigene Flagge bei vielen vermeintlich progressiven Deutschen und ihren politischen Vertretern bis heute als so problematisch gilt, gefühlt sogar als Code der „Rechten“ wahrgenommen wird, das ist schon eine seltsame Angelegenheit. Denn Reichsbürger und Neonazis können zum Beispiel mit der Deutschlandfahne eher wenig anfangen, lehnen sie sogar offen ab. Sie haben dies mit der extremen Linken gemein, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen. Gerade die westdeutsche Linke hatte mit nationaler Symbolik ja schon immer ihre Probleme. Nationalismus und Patriotismus führen zu Ausgrenzung, Rassismus und irgendwann auch wieder zu Hitler, so ihre Theorie. Die brennenden Asylantenheime kurz nach der Deutschen Wiedervereinigung schienen ihnen im gewissen Maße Recht zu geben. Einer Fahne konnte man dafür aber schlecht die Schuld zuschieben.
Ich gebe zu, dass auch ich bis heute mit Begriffen wie Patriotismus und Nationalstolz persönlich wenig anfangen kann. Eine Deutschlandfahne habe ich noch nie in der Hand gehalten. Sah ich früher irgendwo Schwarz-Rot-Gold von einem Balkon wehen, setzte auch bei mir sofort die Assoziation “rechts” ein – dahinter konnte doch nur ein nationalkonservativer Spießer, wenn nicht sogar einen NPD-Wähler stecken! Im Laufe der Jahre hat sich mein Verhältnis zur deutschen Flagge aber merklich entspannt. Spätestens nach der Fußball-Weltmeisterschaft 2006 schien der Krampf endgültig gelöst zu sein, sowohl mein eigener als auch der des restlichen Landes. Wenigstens kurzzeitig schienen die Deutschen ein lockeres und positives Verhältnis zur eigenen Flagge entwickelt zu haben. Und als Lena Meyer-Landrut 2010 den Eurovision Song Contest gewann und im Siegestaumel die Schwarz-Rot-Goldene Fahne schwenkte, wurde anschließend auch nicht das Vierte Reich ausgerufen.

Womit wir beim aktuellsten Symptom der deutschen Flaggen-Neurose wären. Denn der Krampf ist längst zurückgekehrt. Als beim diesjährigen Finale des Eurovision Song Contest vor einer Woche alle Teilnehmer traditionell mit ihrer jeweiligen Landesflagge in die Halle marschierten, waren die Deutschen die Einzigen ohne Flagge. Bei späteren Video-Aufnahmen schwenkten sie dann statt der Landesflagge die Regenbogenfahne. Die Botschaft war eindeutig: Nationen sind von gestern und pfui, wir sind bunt und divers! Dass „Diversität“ beim ESC aber gerade durch die Vielfalt der Flaggen symbolisiert werden soll und dass die Deutschen mit ihrem Alleingang dem Rest Europas quasi untwerschwellig Nationalismus und Rückschrittlichkeit unterstellten, das haben sie offenbar nicht so richtig verstanden.
Stattdessen gab es wieder nur lange Gesichter und beleidigte Reaktionen: „Wieso mag uns niemand?“ Vielleicht, weil ihr euch selbst nicht mögt? Dabei trugen sie ihre Landesfarben – oh Ironie! – sowohl als Kostüm als auch im Songtitel: „Blood and Glitter“, Rot und Gold waren also gesetzt, das Schwarz wurde vermutlich durch ihr Augen-Makeup symbolisiert. Oder durch das Dunkel der Nacht, das zumindest mental einsetzte, als es an die Punkte-Vergabe ging.
Lord of the Lost – Herr der Verlorenen, wahrscheinlich hätte schon der Name vorab stutzig machen sollen. Das desaströse Abschneiden lag am Ende allerdings weder am Namen noch an dem besagten Flaggen-Debakel. Der deutsche Teilnehmer vom letzten Jahr, Malik Harris, schwenkte nämlich sehr wohl seine Landesflagge und erhielt sogar noch weniger Zuspruch, nämlich ganze null Punkte. Nein, wer beim ESC erfolgreich sein will, muss den Moment auf seiner Seite haben, den richtigen Kandidaten zur richtigen Zeit, so wie damals Lena. Die konnte auch nicht singen, räumte aber trotzdem ab. Hat Deutschland diesen Moment nicht, dann hat es gar nichts. Denn auf reine Sympathie- oder Trostpunkte kann es nicht hoffen. Auch nicht von der LGBTQXYZ+ Gemeinde. Selbst der queerste Zuschauer dürfte nämlich mittlerweile nur noch genervt sein von dieser peinlichen Anwanzerei an eine „Community“, die es in der Form gar nicht mehr gibt.
Hier lässt sich nun durchaus eine Brücke zum derzeitigen politischen Zustand dieses Landes schlagen. Denn Deutschland isoliert sich schließlich nicht nur beim ESC. Ob beim Atomausstieg oder dem hartnäckigen Festhalten an Corona-Maßnahmen – Ideologie geht den neuen deutschen Haltung-Lords vor wirtschaftlicher und auch wissenschaftlicher Vernunft. Mögen doch die Nachbarn neue AKWs errichten, wir stehen auf der richtigen Seite der Geschichte – auch wenn uns irgendwann die Licher ausgehen! Eigentlich müsste Deutschland als Moralweltmeister noch vor allen anderen stolz seine Fahne schwenken, denn so verbohrt und selbstgerecht präsentiert sich derzeit kaum ein anderes Land in Europa. Gleichzeitig ekelt es sich aber vor der eigenen Symbolik und präsentiert sich als eine Mischung aus Regenbogenland und ukrainischem Außenposten. Das Stoßgebet der Selbstversicherung „Wir sind bunt!“ wirkt dabei mittlerweile so frisch und überzeugend wie die rappenden Azubis der Raiffeisenbank.
Noch tragen die Bundesregierung und deren angegliederte Ministerien die Farben Schwarz-Rot-Gold im Logo, wenn auch nur noch zu einem schmalen Streifen zusammenschoben – was in dem Fall allerdings wohl eher ästhetischen Gründen geschuldet ist. Ein Logo ist immer eine Abstraktion, es dient lediglich der Wiedererkennung. Die Bedeutung dahinter muss derjenige liefern, der sich damit schmückt. Unternehmen nennen das „Corporate Identity“. Deutschlands Identität scheint derzeit vorwiegend zwischen Selbstverleugnung und Selbstüberschätzung zu pendeln. Welches Flaggen-Design passt wohl am besten dazu?
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Das Problem liegt meiner Meinung nach in der Frage des Sinns von Ritualen.
Auch ich lehne konservative Haltung und Rituale ab. Habe mein lebenlang Tradition und Kirche verachtet. Das ist eine wohlfeile linke Haltung, aber was die meisten völlig vergessen, das diese Dinge einen Zweck erfüllen im zusammen leben. Man muss also hinterfragen was man da abschaffen und mit was man dies auffüllen möchte.
Das tun aber sehr wenige – nach meinem Gefühl in der Öffentlichkeit keiner. Es wird alles kritisiert, verächtlich gemacht oder massiv diffamiert ohne einen Gedanken zu verschwenden was dahinter stecken kann oder in welchem Kontext es entstanden ist.
Das hat mich schon früher (bin Ü50) verzweifeln lassen. Und ist mir z.b. bei den Freunden die Kinder haben oft aufgestoßen. War man in der kinderlosen Zeit noch der Rebell, der Traditionen verachtete und spuckte auf Kirche und der Zeremonien, wurde mit Kinder plötzlich die Weihnachtszeit mit allen Traditionen gefüllt, die wir zu genüge kennen. Wegen den Kindern – hieß es – aber in Wirklichkeit war es, weil den Menschen nicht bewusst war, dass diese Traditionen eine Aufgabe haben die man füllen muss, wenn man sie ablehnt.
Dafür gibt es ein gutes Beispiel, über das sich der Westen gerne lustig macht, aber die DDR hat genau solche Traditionen versucht zu füllen – mit dem Gedankengut, das sie für richtig hielten.
Dazu ist aber der heutige Linke nicht in der Lage. Der Versuch alle Traditionen und alle Symbole die als alt oder überholt gelten, zu zerstören und ohne neue Inhalte zu füllen, führt zu dem was wir aktuell erleben. Kämpfe und Orientierungslosigkeit.
Ich bin sicher, dass sich das wieder ändern wird. Der Mensch braucht einen Pfad, auch wenn es ein Feldweg ist. Aber im Moment trampeln wir vom Standpunkt der Philosophie betrachtet auf der Stelle. Sorgen kann man sich aber darüber machen, welche Richtung der neue Pfad gehen wird. Aktuell sehen wir eine Stärkung der Autorität und des Obrigkeitsglauben, wohin das führen könnte wissen wir nur zu gut.
Ich kann als Individuum Traditionen und Rituale durchaus ablehnen bzw. hinterfragen und gleichzeitig feststellen, wie seltsam es ist, wenn eine Nation sich vor der eigenen Symbolik ekelt. Es ist wie gesagt, eine absurde Mischung aus Selbstverleugnung und Selbstüberschätzung, die das neue Deutschland da nach außen zu tragen versucht.
Apropos “Neues Deutschland”: Was soll das Beispiel DDR jetzt in diesem Zusammenhang aussagen? Dort wurden den Menschen zwar neue Fähnchen und Uniformen verordnet, aber vor alten kulturellen Traditionen wurde schließlich doch kapituliert. Weihnachten wurde eben nicht abgeschafft. Auch die sprachliche Umdeutung von zum Beispiel Engeln zu “Jahresendfiguren” gab es nur auf dem Reißbrett, das hat sich in der Realität nie durchgesetzt. Selbst die Deutschlandfahne wurde ja nur notdürftig überklebt. Oder anders gesagt: der Versuch, Jesus durch Lenin zu ersetzen, ist damals wohl gescheitert. Aktuell wird nun Jesus durchs Klima ersetzt – mal sehen, wie lange das noch gut geht.
Schöne Einlassung dazu. Außer die beleidigte Leberwurst kann ich jetzt anekdotisch nicht bestätigen, weil sie sich ja schon mit der Nicht-Nutzung der D-Flagge super finden.
Ergänzend dazu, die musikalische Breitseite meinerseits:
polemica-blog.jimdofree.com/2023/05/20/s-woche-esc-ape