Die „Sucht nach Schönheit und Freiheit“ sei vorbei, schrieb Wolfgang Joop in einem Nachruf auf Tatjana Patitz. Was der Modeschöpfer bedauert, passt den Haltungsjournalisten bestens ins Weltbild – sie haben sich auch längst neue, dazu passende Supermodels gewählt.

Zuerst sehen wir einen dampfenden Wasserkessel. Ein eleganter Kameraschwenk lenkt schließlich unseren Blick durch das Halbdunkel einer stylisch abgeranzten Wohung. In der Ecke sitzt Linda Evangelista, barfuß. Sie ergreift eine Fernbedienung, ein kurzer Klick und es geht los. Was nun folgt, sind sechs Minuten feinster Popgeschichte. An dem Video zu George Michaels „Freedom!“ aus dem Jahr 1990 ist einiges bemerkenswert. Der Popstar selbst war darin zum Beispiel gar nicht zu sehen – auf dem Höhepunkt der MTV-Ära ein recht ungewöhnlicher Vorgang. Stattdessen heuerte er die berühmtesten Supermodels seiner Zeit an und ließ sie für ihn Playback singen, eine kostspielige und geniale Idee. Denn George Michael rechnete in „Freedom!“ sowohl optisch als auch textlich mit der Musikindustrie ab, setzte ihr damit aber gleichzeitig auch ein glanzvolles Denkmal. Die perfekte Synthese aus Glamour und Rebellion, eine Kritik der Oberflächlichkeit durch den Aufmarsch der prominentesten Oberflächen, inszeniert von niemand geringerem als David Fincher. Bis heute darf darüber gestritten werden, ob es sich dabei um das über- oder unterbewertesten Musikvideo aller Zeiten handelt.

Bemerkenswert war auch das einzige deutsche Model, das in dem Video auftrat: die Hamburgerin Tatjana Patitz, die in dieser Woche im Alter von 56 Jahren verstarb. „Freedom!“ wurde so auch für sie zum Denkmal. Patitz, in der Modelbranche als „The German Face“ bekannt, unterschied sich von ihrer pausbäckig-barbiehaften Kollegin Claudia Schiffer durch ihr spezielles, mysteriöses und zeitlos schönes Antlitz, das wahrscheinlich nie perfekter in Szene gesetzt wurde als in George Michaels Video, nicht einmal von ihrem einstigem Entdecker, dem Fotografen Peter Lindbergh. Dieses Gesicht ist wohl aber auch alles, was von ihr in Erinnerung bleiben wird. Ich kann mich nicht erinnern, Tatjana Patitz jemals sprechen gehört zu haben – etwas, was ich von Frau Schiffer leider nicht behaupten kann.

In Zeiten nonstop tobender Meinungs- und Haltungskriege ist ein Gesicht vielleicht aber doch mehr als nur ein Gesicht, im Zweifelsfall ein Symbol, ja gar ein Symptom für zeitgeistige Befindlichkeiten. In der Einleitung seines Nachrufes auf Tatjana Patitz erklärte Wolfgang Joop diese nun im SPIEGEL zum Aushängeschild einer Zeit, „die alles erlaubte und alles verbrauchte.“ Gemeint sind natürlich die 90er Jahre, die sich, wie jede andere Dekade vor ihr, rückblickend jede Menge blumige Zuschreibungen gefallen lassen müssen. Grunge und Techno, Hedonismus und Neoliberalismus, der Siegeszug des Internets und der absurde Ruhm der Supermodels – all das und mehr wird heute mit den 90ern assoziiert. Ja, gefeiert wurde reichlich. Wesentlich mehr Ressourcen als die junge Generation von heute haben wir in meiner Erinnerung aber nicht verbraucht. Eher weniger, wir hatten ja nicht einmal Smartphones. Ab und zu stand auch mal ein armer Irrer mit einem Pappschild vor dem Bahnhof und warnte uns vor dem Weltuntergang, so etwas wurde damals aber noch nicht als Aktivismus bezeichnet.

Der Tod von Tatjana Patitz sei, so Wolfgang Joop, ein Zeichen dafür, dass „die Sucht nach Schönheit und Freiheit vorbei ist.“ Vom Gesicht zum Zeichen – was dieser Frau posthum noch so alles zugeschrieben wird! In „Freedom!“ bewegte sie nur die Lippen zu George Michaels musikalischem Befreiungsschlag, ihr Ableben soll 30 Jahre später nun gar das Ende der Freiheit einleuten. Tatsächlich sehnt sich Joop in seinem Nachruf nach der Freiheit und scheinbaren Unbeschwertheit jener Ära zurück: „Wir alle, meine Generation, mein Berufsstand, wir alle trauern dieser Zeit natürlich nach und sind traurig, dass es immer weniger Personen gibt, die den Mut haben, zu dem zu stehen, was sie denken und sagen.“ Diesen Mut nur von anderen zu erwarten, ist an sich natürlich schon eine ziemlich feige Grundhaltung. Die zunehmende Einengung dessen, was öffentlich noch gesagt oder gelebt werden darf, ist leider auch ein Ergebnis dieser Feigheit. Da müssen wir uns wohl nicht wundern, wenn „Freiheit“ mittlerweile von gut geschmierten Haltungsmedien zur egoistischen Floskel erklärt wurde.

Der zunehmende Geist des Totalitarismus wird uns dabei als demokratiestärkend verkauft, auch und vor allem vom SPIEGEL. Zwar hat man dort diesbezüglich noch nicht ganz das Niveau des britischen Guardian erreicht (dessen großzügig gesponserte Tendenzschreibe der Kollege Driesen hier gerade erst wieder thematisiert hatte), aber man ist schon auf dem besten Weg. Dezent kritische Kommentare wie der von Joop sind da bestenfalls schmückendes Beiwerk, auf jeden Fall aber die Ausnahme.

Schneller als der Journalismus hechelt nur die Modebranche den Trends ihrer Zeit hinterher. Statt der schönen Tatjana und ihren Kolleginnen tummeln sich daher heute immer öfter Gestalten wie Greta Thunberg oder die Selenskyjs auf dem Cover der Vogue. Die narzisstischen Erlöser-Posen dieser neuen Supermodels stellen für die Haltungsjournalisten freilich kein Problem dar, ganz im Gegenteil, denn dieser Hochglanz dient schließlich höheren Zielen. Auf dass die Leser lernen, was wirklich zählt: verzichten, kürzer treten, weniger verbrauchen, Strom sparen, zusammenrücken, zuhause bleiben und solidarisch sein. Das neue deutsche Gesicht kneift den Mund zusammen fürs Klima und den Endsieg in der Ukraine. Ja, die Sucht nach Schönheit und Freiheit ist endgültig vorbei, liebe Volksgenoss:innen! Währenddessen fliegt Selenskyjs Ehefrau zum Luxus-Shopping nach Paris.

„All we have to do now is take these lies and make them true somehow“ – was George Michael 1990 noch als eher ironische Metapher sang, scheint längst ganz unironisch zum Selbstverständnis der Haltungs- und Meinungsmacher unserer Zeit geworden zu sein.


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